Süddeutsche Zeitung

Reisen und Corona:Virus unterwegs

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In einer Studie zu den Corona-Infektionen, die in den Sommerferien 2020 aus dem Ausland eingeschleppt wurden, kommt das RKI zu überraschenden Ergebnissen. Einige davon geben der Reiseindustrie gute Argumente an die Hand.

Von Hans Gasser

In herzlicher Abneigung: So könnte man das seit nunmehr einem Jahr bestehende Verhältnis zwischen Vertretern der Tourismuswirtschaft auf der einen und Politikern sowie Virologen auf der anderen Seite beschreiben. Während Letztere das Reisen und den Tourismus als Infektionstreiber sehen und deshalb Grenzen, Hotels und Skigebiete geschlossen halten, betonen die anderen, dass die klassische, durch ausgefeilte Hygienekonzepte angereicherte Urlaubsreise an den Strand oder in die Berge das Infektionsgeschehen nicht anfeuere. Weil nun Oster- und Pfingstferien in Reichweite sind und gleichzeitig die Inzidenzzahlen vielerorts sinken, wird der Ton schärfer.

"Verantwortungslos" nennt Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbandes (DRV) und somit Chef-Lobbyist der Branche, die Äußerungen einiger Politiker, die den Osterurlaub abermals ausfallen lassen wollen, auch innerhalb Deutschlands. "Das schiebt die von der Pandemie extrem gebeutelte Reiseindustrie weiter an den Abgrund", so Fiebig. Die Politik hält indes an umfassenden Risikogebietseinstufungen, Test- und und Quarantänepflichten auch für Länder mit vergleichbaren Infektionszahlen fest. Begründet wird dies mit dem Schutz vor mehr Infektionen und Virusvarianten.

Wer hat nun recht? In einer jüngst veröffentlichten Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) wurde der Einfluss des Reisens auf das Infektionsgeschehen während des Sommers 2020 untersucht; die Forscher kommen zu interessanten Ergebnissen, die der Reiseindustrie einige gute Argumente liefern. Die Wissenschaftler haben darin die "reiseassoziierten Covid-19-Infektionen in Bezug zu Schulferien, Reisetätigkeit und Testkapazitäten" gesetzt.

Die meisten infizierten Reiserückkehrer kamen aus Kosovo, Kroatien und der Türkei

Als Mitte Juni die Grenzen zu den EU-Ländern wieder geöffnet wurden, sei die Zahl der Corona-positiven Fälle, für die das Ausland als Infektionsort angegeben wurde, zuerst langsam und dann immer schneller gestiegen und habe Mitte August mit 48 Prozent ihren Höhepunkt erreicht. Die Autoren sprechen von einer "Sommerferienwelle". In vielen Bundesländern sei ein Anstieg der Inzidenz zwei bis drei Wochen nach Ferienende erkennbar. Die "Peaks" in Nordrhein-Westfalen, Berlin und Bayern, so heißt es weiter, seien aber auf einen Fleischverarbeitungsbetrieb in Gütersloh, einen Häuserblock in Neukölln und einen Spargelhof in Bayern zurückzuführen.

Dazu passt die vom RKI erhobene Liste der Länder, in denen sich die meisten Reiserückkehrer zwischen Mitte Juli und Mitte September angesteckt hatten: Diese wird angeführt von Kosovo, gefolgt von Kroatien, der Türkei, Bosnien und Rumänien. Erst an Stelle sechs und sieben folgen Spanien und Frankreich, des Weiteren Bulgarien und dann erst Italien. Unter den oben genannten Ländern, so konstatiert das RKI, seien solche, "aus denen Vertragsarbeiter nach Deutschland kommen (Rumänien, Bulgarien)", Heimatländer von Einwanderern (Türkei und Kosovo) sowie klassische Urlaubsländer (Spanien, Frankreich)." Infizierte in Verbindung mit Reisen seien insgesamt deutlich jünger gewesen und deutlich seltener ins Krankenhaus gekommen.

Aus Spanien, dem beliebtesten Badeziel der Deutschen, seien die ganzen Ferien über Fälle nach Deutschland eingetragen worden, allerdings viel weniger, als die hohen Inzidenzen im Urlaubsland selbst vermuten ließen. Der Grund dafür könnte sein, so das RKI, dass es "auf Reisen in häufige Urlaubsländer zu weniger intensiven Kontakten mit der einheimischen Bevölkerung kam und damit zu einem geringen Ansteckungsrisiko im Gegensatz zu Personen, die zu Familienbesuchen in ihr Herkunftsland reisten". Dazu beigetragen hätten vermutlich auch "Übernachtungen in Hotels, die im vergangenen Sommer oftmals Hygieneregeln unterlagen".

Diese Einschätzung nimmt der DRV natürlich sehr gerne an - und zum Anlass, um zu betonen: "Die klassische organisierte Urlaubsreise hat nur auf geringem Niveau zum Infektionsgeschehen in Deutschland beigetragen." Das RKI schränkt allerdings ein, die geringe Zahl von gemeldeten Ansteckungen in Spanien und auch Frankreich könne ebenso daher rühren, dass die Länder erst spät im Sommer wieder als Risikogebiete eingestuft wurden, Tests also nicht obligatorisch waren und damit weniger Infektionen bekannt wurden.

Zwar erscheine es plausibel, dass die reiseassoziierten Infektionen die heftige zweite Welle in Deutschland beeinflusst haben könnten, das sei aber an den vorhandenen Daten nicht ablesbar, so das RKI: "In der zweiten Welle spielen reiseassoziierte Infektionen nur eine sehr untergeordnete Rolle, weil die autochthone Übertragung überwiegt." Also diejenige im Inland. Insgesamt wurde dem RKI von Beginn der Pandemie bis zum 15. Oktober für zwölf Prozent aller Corona-Fälle das Ausland als Ort der Ansteckung genannt.

Die Reisebranche fordert ein Restart-Konzept mit breiten Testmöglichkeiten

Die Studie hebt die Wichtigkeit des Testens für Reiserückkehrer hervor. Und hier trifft sie bei der Reiseindustrie auf offene Ohren. So betont etwa der Geschäftsführer des Reiseveranstalters FTI, Ralph Schiller, man müsse die Urlauber künftig vor und nach der Abreise testen, was auch möglich sei. Als von August 2020 an wieder Reisen in bestimmte Gebiete der Türkei erlaubt wurden, habe man 80 000 Urlauber vor der Rückreise nach Deutschland per PCR-Methode getestet, sagt Schiller, nur 0,3 Prozent seien positiv gewesen, was der Manager auf die rigorosen Hygienevorkehrungen in türkischen Hotels zurückführt.

Der DRV fordert deshalb, statt Reisen zu verhindern, die Studie des RKI für die stufenweise Entwicklung eines Restart-Konzepts für den Tourismus zu nutzen, vor allem durch systematisches und strategisches Testen. "Die Politik muss mit uns darüber reden", so FTI-Chef Schiller, "und uns etwas zutrauen. Wir werden alles dafür tun, dass die Infektionszahlen durch Urlaubsreisen nicht in die Höhe gehen."

Die Reiselust ist da, Veranstalter wie Dertour, FTI und Tui locken wegen der großen Unsicherheit in Bezug auf Ostern und Pfingsten mit kurzfristig stornier- oder umbuchbaren Angeboten. Für den Sommer sieht etwa die Tui im Inland eine sehr starke Nachfrage nach Bayern und der Ostseeküste, wo es wieder sehr voll werden könnte. Auch bei Zielen, die mit dem Auto erreichbar sind - etwa Österreich, die italienische Adria und die norditalienischen Seen - steige die Nachfrage. Am Mittelmeer seien nach aktueller Buchungslage vor allem Inseln wie Kreta, Mallorca, Kos und Rhodos beliebt, gefolgt von der Türkei und den Kanarischen Inseln. Man erwarte für diese Ziele am Mittelmeer im Sommer einen "starken Nachholeffekt".

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