Die Plattenbauten wirken selbst auf Papier riesig, graue Betonhaufen aus einer vergangenen Zeit. Die Tore von Chișinău werden sie genannt. Sie zieren eine Plakatwand mitten in der Hauptstadt der Republik Moldau. Was ist das für eine Stadt, in der die heimische Biermarke mit den prägnantesten Plattenbauten am Ort wirbt? Eine "zum Abgewöhnen", wie ein entnervter Besucher geschrieben hat? Eine, die man getrost überspringen kann, wie das fehlende Regalfach für Moldau in den meisten Reisebuchabteilungen nahelegt?
Wer sich in Chișinău (gesprochen: Kischinau) wiederfindet, sei es auf Entdeckungsreise durch die Region oder beruflich, kann auch einfach die Augen aufmachen - es wird sich lohnen. Die erste Überraschung könnte sein: Ganz schön grün hier. Denn diese Stadt ist stolz auf ihre Parks, etwa Valea Morilor ("Tal der Mühlen"), in dem vor wenigen Jahren Mammut-Skelette gefunden wurden oder La Izvor, der zur Zeit des Kommunismus als "Park der Völkerfreundschaft" angelegt wurde. Oder den 200 Jahre alten Ștefan cel Mare Park, der wegen seiner Dichterbüste in der "Allee der Klassiker" auch Puschkin-Park heißt.
Wer neben den Augen auch noch die Ohren offenhält, hört in Chișinău zur Abwechslung mal nicht das übliche Sprachengewirr einer internationalen Touristenschar. Er hört moldauisches Rumänisch und Russisch, eine Mischung, die sich aus der turbulenten Geschichte des Landes ergibt. Nicht weit von der Allee der Klassiker ist ein genauerer Blick in diese Vergangenheit möglich - im Nationalmuseum für Archäologie und Geschichte.
Daneben klackern Ping-Pong-Bälle
Mehr als 320 000 Exponate zeigen, was das kleine Land von der Gründungslegende im Mittelalter über osmanische, russische und rumänische Herrschaftsphasen bis hin zur Zeit als Sowjetrepublik durchlebt und durchlitten hat. An der Darstellung eines der blutigsten Momente haben zwei Künstler acht Jahre lang gearbeitet: Eine dreidimensionale Installation zeigt auf 800 Quadratmetern eine Schlacht zwischen sowjetischen und deutschen Truppen 1944. Die Damen an der Kasse winken Besucher, die den Eingang zum Diorama übersehen, so freundlich wie unerbittlich herein. Im Keller darunter bedrückt eine Schau zum System der Gulags. Hinter einer Wand klackern Ping-Pong-Bälle aus einem Pausenraum des Personals.
Wer nicht ins nächste Museum weiterwandert, etwa ins Nationale Kunstmuseum, findet schöne Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert im Botschaftsviertel, teils versteckt hinter alten Bäumen. Manche sind nur noch Fassade neben von Schlaglöchern zerfurchten Straßen, aus ihnen ragen Sträucher. Anderswo im Zentrum recken sich vereinzelt moderne Glas- und Stahltürme in die Sonne. Es ist eine seltsame Mischung in Chișinău, die aber zu dem kleinen Land passt, das sich seit seiner Unabhängigkeit 1991 zwischen der EU und Russland zurechtfinden muss und momentan deutlich nach Westen neigt. Mit weniger als vier Millionen Einwohnern wird Moldau international oft ignoriert, wegen des ungelösten Konflikts in der Region Transnistrien, wegen seiner Armut und seiner Auswanderer mal misstrauisch, mal mitleidig beäugt.
Es kann nicht leicht für diese Stadt, für dieses Land sein, sich Besuchern selbstbewusst zu präsentieren, und doch wirkt das Mauerblümchen Chișinău tapfer.
Kirche und Triumphbogen am Boulevard Ștefan cel Mare.
(Foto: nyiragongo - Fotolia)Der Boulevard Ștefan cel Mare, der die Innenstadt durchzieht, ist gesäumt von allerlei Sehenswürdigkeiten - einer Statue des Namenspatrons des Boulevards, dem Triumphbogen oder den goldenen Kuppeln der Kathedrale Sf. Mare Mucenic Teodor Tiron. Es ist nur wenig Fantasie nötig, um sich die Paraden vorzustellen, die hier früher unter wechselnden Bannern abgehalten wurden. Jetzt sind überall kleine Kaffeestände aufgebaut, immer wieder blitzen bunte Plakate auf, Chișinău erfreut seine 700 000 Einwohner ab und an mit Kulturereignissen wie der "Nacht der Museen". Von der eigentlich unvermeidlich gewordenen Standard-Shoppingmeile mit H&M, Burger King und Saturn fehlt dagegen jede Spur.