Chile:Hohe Ziele

Unterwegs auf der chilenischen "Ruta de las Misiones": eine Reise zwischen Marslandschaften aus Sand und Hitze, restaurierten Lehmkirchen und den schneebedeckten Gipfeln der Anden.

Von Mirco Lomoth

Die Wüste endet in Codpa. Wie ein grünes Band liegt die Oase inmitten rötlichen Gesteins. Obstbäume stehen dicht gedrängt um einen schmalen Bachlauf, Orangen und Limonen hängen an ihren Ästen. Weiter oben, auf Terrassenfeldern, wachsen dünnstämmige Papayabäume und knorrige Weinreben mit zartgrünen Blättern. Ein Betonkanal trennt das Grün von der Wüste, sein schnell dahinfließendes Wasser funkelt in der Mittagssonne.

Im Garten von Rodrigo Soza sind die Avocados noch so klein wie Kaffeebohnen. Der hochgewachsene Mann, dessen Worte und Gesten dahinfließen wie der dickflüssige Dessertwein, den er verkauft, führt durch das Dickicht hinter seinem Haus. Mehr als 20 Früchte erntet er hier das ganze Jahr über - Aprikosen, Guaven, Grapefruit, Pflaumen, Quitten, Mangos und Kaktusfrüchte. Doch am wichtigsten ist ihm der Wein. Im Herbst bereitet er aus den überreifen Trauben der Rebsorte País den zuckersüßen Dessertwein Pintatani zu, für den Codpa bekannt ist. Mit bloßen Füßen zertritt er die Trauben und zerquetscht sie mit zentnerschweren Steinen in einem Netz aus Schilf, durch das der Most herausläuft. Soza führt seine Besucher in den dunklen Weinkeller seines Lehmhauses. Eichenfässer stehen herum, im Boden ist ein Steinbecken für den Most eingelassen. "Auf diese Weise wurde der Pintatani in Codpa schon zu Kolonialzeiten hergestellt", erzählt er. Damals transportierten Maulesel und Lamas den begehrten Wein bis nach Bolivien und Peru. Soza schenkt etwas Pintatani in ein Schnapsglas und reicht ihn zum Probieren. Er schmeckt schwer und süß und nach Wüstensonne.

Von der chilenischen Hafenstadt Arica im äußersten Norden des Landes, wo die Wellen des Pazifiks auf den Stadtstrand donnern, geht es stundenlang durch eine Marslandschaft aus Sand und Fels und Hitze, immer weiter hinauf in die Anden, deren schneebedeckte Gipfel wie weiße Pyramiden in der Ferne aufragten. Plötzlich tauchte hinter einer Kurve das Grün der Gärten von Codpa auf, das erste Ziel auf der Fahrt zum Chungará-See an der Grenze zu Bolivien auf 4500 Meter Höhe.

Chile, Ruta de las Misiones

SZ Grafik

(Foto: SZ Grafik)

Drei Tage braucht man mit dem Auto für die Route, die zu abgelegenen Andendörfern und alten Lehmkirchen führt, durch eine ansonsten menschenleere Landschaft. Die chilenische Altiplano-Stiftung hat diese "Ruta de las Misiones" geschaffen, um eine von Abwanderung betroffene Region an der Grenze zu Peru und Bolivien zu beleben. Sie restauriert die vielerorts verfallenen Lehmkirchen, von denen aus die Aymara-Bevölkerung der Region einst missioniert wurde, und will so Reisende in Dörfer locken, in denen Einheimische Unterkünfte anbieten, regionale Speisen oder geführte Wanderungen.

Eine der Kirchen, die bereits restauriert wurden, steht am höchsten Punkt des Dörfchens Guañacagua bei Codpa. Das barocke Portal des mit Stroh gedeckten Kirchenschiffs ist verziert mit den Reliefs von Sonne, Mond und einem Ch'ullo, der typischen Ohrenklappenmütze der Andenvölker. Ein weiß getünchter Glockenturm steht einige Meter vom Kirchenschiff entfernt.

"In der traditionellen Vorstellung ist der Kirchturm der Phallus des Mannes, Frauen dürfen ihn nicht betreten, und die Kirche selbst wird als Mutter Erde gesehen", erklärt Israel Quispe, ein Architekt, der für die Altiplano-Stiftung mehrere Kirchen restauriert hat und die Tour begleitet. "Die Kirche war immer das Herz der Gemeinschaft, hier feiern die Menschen ihre Feste und bewahren vorspanische Riten, die sie mit dem Katholizismus vermischt haben."

Seit 2002 hat die Altiplano-Stiftung mit finanzieller Unterstützung des chilenischen Staats bereits 14 Kirchen in traditioneller Lehmbauweise restauriert und gegen Erdbeben gesichert, weitere 18 sollen folgen. In einigen Dörfern werden zudem alte Wohnhäuser saniert. "Seit den 1960er-Jahren haben sich Zementblöcke und Zinkdächer durchgesetzt, was einen großen Verlust von Baukultur und Lebensqualität bedeutete. Wir wollen das Wissen über die alten Bauweisen wieder vermitteln", sagt Quispe. In zehnmonatigen Kursen lernen Einheimische die Herstellung von Lehmziegeln, Lehmbau, Holzkonstruktion oder die Restaurierung von Heiligenfiguren - und werden danach von der Stiftung für Restaurierungsarbeiten bezahlt.

Am Dorfrand von Codpa bereitet Olga Romero am nächsten Morgen das Frühstück über dem Kochfeuer zu. Eine buschige Chili-Pflanze mit knallroten Schoten wuchert vom Garten in ihre Außenküche. Es gibt in Fett gebackene Sopaipilla-Krapfen mit Orangenmarmelade, dazu frisch gepflückte Kaktusfrüchte und Avocados.

Gäste können bei Doña Olga, wie sie sich nennt, in einfachen Holzhütten übernachten und in ihrem Garten Feigen, Aprikosen, Guaven, Orangen oder Mangos ernten. Sie können zur restaurierten Kirche von Guañacagua wandern oder zu den Felszeichnungen von Ofragia, wo Menschen vor 2500 Jahren Lamas, Jäger und Schamanen in den Stein geritzt haben. "Früher sind die Touristen nur durchgereist auf dem Weg nach Bolivien, aber seit die Kirchen und Häuser restauriert werden und touristische Angebote entstehen, bleiben viele auch über Nacht", sagt Olga Romero. "Und die Einheimischen verspüren neuen Stolz auf ihre Traditionen."

Den Schlüssel zur Kirche haben Anwohner. Der Priester kommt nur noch zu den Festtagen

Auch Olga Romero keltert den Pintatani-Wein, verkauft Saft und Marmeladen aus eigenen Früchten. Vor sechs Jahren ist sie aus der Stadt zurück in ihr Heimatdorf gekommen und hat den Garten ihrer Eltern übernommen, den sie alle 20 Tage neun Stunden lang mit Wasser aus dem Dorfkanal bewässern darf. "Ich liebe es, aus den trockenen Bergen zu kommen und plötzlich ist alles um mich herum grün", sagt sie und gibt uns zum Abschied Limonen mit - gegen die Kopfschmerzen in der Höhe.

Von Codpa aus schraubt sich die Straße in engen Kurven steil hinauf, wird bald zu einer staubigen Schotterpiste. Trockene Bachbetten liegen zwischen Fels und Geröll, graue Disteln und Sträucher stehen neben schwarz vertrockneten Kakteen. Eine Herde Vikunjas grast an einem kargen Hang. Nur im Sommer, sagt Israel Quispe, ergrünt diese Landschaft flüchtig. "Dann ist es wie ein Wunder, wenn plötzlich überall Leben ist."

Das Dörfchen Belén liegt auf etwa 3200 Metern in einem Hochtal. Bunte eingeschossige Häuschen werfen ihre Schlagschatten auf das Steinpflaster. Marco Mollo bietet hier Wanderungen und Ausritte an, seit eine der beiden Dorfkirchen von Belén restauriert wurde und mehr Touristen ins Dorf finden. Er geht voran durch Terrassenfelder, von denen die meisten nicht mehr bestellt werden, über einen von hohen Schilfbüscheln umstandenen Bach in ein weites Tal. Gelb verdorrte Sträucher rascheln an den Beinen, alte Steinmauern durchschneiden die Landschaft, verfallen Steinhäuser stehen neben dem Pfad. "Hier haben Heiden gelebt", sagt Mollo mit leiser Stimme. "Der Ort ist verhext, niemand bringt sein Vieh zum Grasen her."

Am Ende des Tals klettert Mollo einen Hügel hinauf, über eingestürzte Steinwände hinweg, aus denen Kakteen wachsen. Große Mörsersteine liegen herum, Keramikscherben, Menschenknochen. Hier befand sich einst eine befestigte Stadt, lange bevor die Europäer kamen. Die Hügelkuppe ist zu einer Plattform geebnet, die übersäht ist mit Keramikscherben. "Hier haben sie Koka für Vater Sonne geopfert und Tiere für Pachamama", sagt Mollo.

In Belén schließt Victoria Mollo am Nachmittag die Holztür zur Kirche San Santiago auf, die von einem mit Blüten und Tieren verzierten Steinportal gerahmt ist. Sie trägt einen großen schwarzen Krempenhut, den sie nicht absetzt. Im kühlen Kirchenraum stehen Dutzende mit bunten Stoffen geschmückte Heiligenfiguren. "Wir halten hier kaum noch Messen ab, der Priester kommt nur zu den Fiestas, uns wachsen schon langsam Hörner", sagt sie und kichert. Im Mai, erzählt sie, schmücken die Dorfbewohner die Kreuze der Kirche mit weißen Blüten und Seidenschals und tragen sie hinauf auf den Hügel neben dem Dorf, der ihnen als heilig gilt.

Wie Doña Olga in Codpa ist auch Victoria Mollo aus der Stadt in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie hat ein altes Lehmhaus mit Unterstützung der Stiftung restauriert und ein Restaurant eröffnet. Jetzt kocht sie für Gäste, was ihr Garten und das Dorf hergeben - Quinoa, Mais, Ziegenkäse, Schafsfleisch und getrocknete Chuño-Kartoffeln, die sie haltbar macht, indem sie die Knollen zertritt und auf einem Strohbett acht Tage in Nachfrost und Sonne ausdörren lässt. "Als ich klein war, waren wir noch 70 Kinder in der Schule, jetzt gibt es nur noch fünf. Viele Familien leben in Arica und kommen nur noch zu den Festen her", sagt sie. "Aber es tut sich etwas, einige junge Leute restaurieren die Häuser ihrer Familien und sehen Chancen im Tourismus."

Am nächsten Morgen schenkt Victoria Mollo Kokatee ein, zum Warmbleiben in der Höhe, sagt sie. Es geht weiter hinauf in den Altiplano, Kurve um Kurve, vorbei an endlosen Ebenen, auf denen sich Strohbüschel im Wind biegen, und in feuchte Hochtäler, in denen borstiges Gras wächst. Die dünne kalte Luft brennt in der Lunge.

Dann irgendwann liegt er vor uns, der Chungará-See, das Ziel unserer Reise. Flamingos waten durch sein dunkelblaues Wasser, Chinchillas schauen neugierig hinter Steinen hervor. Am Horizont erheben sich die schneeweißen Kegel der Zwillingsvulkane Parinacota und Pomerape und die gewaltige vereiste Kuppe des Sajama-Vulkans, ein Sechstausender in Bolivien. Es ist ein erhebender Anblick. Die Reise hat 4500 Meter weiter unten begonnen, jetzt pocht bei jedem Schritt die Höhe hinter den Schläfen.

Als die Sonne allmählich zu versinken beginnt, fegt ein eisiger Wind die letzte Wärme des Tages davon. Wir sind allein in dieser ungastlichen Welt. Gut, dass im nächsten Dorf jemand mit einem Kokatee auf uns wartet.

Info

Anreise: Flug mit Iberia ab Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, München oder Stuttgart über Madrid nach Santiago de Chile, hin und zurück ab etwa 800 Euro, in der Business Class etwa 5900 Euro, www.iberia.de. Von Santiago de Chile nach Arica mit Latam (www.lan.com) oder Sky (www.skyairline.cl).

Touren: Die Altiplano-Stiftung bietet ein- bis dreitägige Touren auf der "Ruta de las Misiones" an, drei Tage kosten rund 360 Euro pro Person. Die Stiftung vermittelt auch andere Reiseveranstalter, www.rutadelasmisiones.cl

Übernachten: Olga Romero bietet in ihrer Pension Samkanjama in Codpa Übernachtungen in einfachen Holzhütten an, für circa 18 Euro pro Person mit Frühstück, Telefon: 00 56 / 58 57 99 77 48. In Belén bietet Adela Cutipa in der Herberge La Paskana Zimmer für 22 Euro mit Frühstück, Tel.: 00 56 / 582 31 15 30.

Weitere Auskünfte: Allgemeines zu Nordchile: www.chile.travel/de

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