Emilio hat einen Traum. Emilio Lettry, 83, sitzt in seiner überheizten Küche, schürt noch ein Stück Lärchenholz in den alten Metallofen, es knistert und knackt. Dann zeigt er zum Fenster. "Da draußen könnte man einen schönen Stall bauen, für zwölf bis 15 Kühe. Wir haben ja alles hier, Wiesen und Quellwasser im Überfluss." Die Wiesen liegen unter einer frischen Schneeschicht, es hat minus neun Grad. Der Blick des Alten geht nun in die Ferne, seine Augen wirken viel jünger, als es die weißen Haare und der Mund mit den paar übrig gebliebenen Zähnen erahnen lassen. "Kleine Käselaibe könne man herstellen, Buttermilch und Sahne, und an die Touristen verkaufen. Aber wer, frage ich dich, wer soll die ganze Arbeit machen?"
Er jedenfalls nicht mehr. Emilio Lettry ist der letzte Bewohner von Suisse, dem entlegensten Ortsteil der an sich schon ziemlich entlegenen Gemeinde Chamois im Aostatal. Das Matterhorn steht nur 15 Kilometer Luftlinie nördlich von hier. Ein halbes Dutzend Häuser, gemauert aus grobem Stein, hat Suisse, das so heißt, weil der erste Siedler ein Schweizer Schmuggler gewesen sein soll. Die meisten Ortsnamen im autonomen Aostatal sind auf Französisch, das neben Italienisch auch Amtssprache ist. Emilio spricht wie viele seiner Generation Patois, eine alte franko-provenzalische Sprache. Die meisten Steinhäuser in Suisse sind schön saniert, aber unbewohnt. Es sind Ferienhäuser wohlhabender Menschen aus Turin oder Mailand, die ihren Urlaub hier verbringen, sonst aber das bequemere Stadtleben vorziehen.
Emilio Lettry wohnt seit seiner Geburt in Chamois, etwas anderes kann er sich gar nicht vorstellen. "Ein paar Tage in der Stadt und ich wäre tot." Er war immer Bauer, hatte Kühe und baute Roggen an, der hier auf 1800 Metern hervorragend gewachsen sei, und er flocht Tausende Körbe, die er an die Touristen verkaufte. "Dass ich eines Tages Milch aus dem Karton trinken muss, das konnte ich mir im schlimmsten Traum nicht vorstellen." Emilio sagt das nicht verbittert. Er macht seine Späßchen über die Welt, deren Logik er nicht mehr so ganz versteht.
Etwa, warum die Jungen nicht glücklich seien, obwohl sie doch Geld und Auto und Wohnung hätten. "Ich bräuchte nur eine Frau, die meinen Traktor fahren darf", sagt er grinsend. Denn der Bürgermeister habe ihm verboten, ins Dorf zum Einkaufen zu fahren, da er keinen Führerschein besitze und die Polizisten neuerdings bis nach Chamois herauf zum Kontrollieren kommen. Dafür müssen selbst die Polizisten die Seilbahn nehmen, denn Chamois ist laut Eigenwerbung die einzige Gemeinde Italiens, die nicht mit dem Auto erreichbar ist, und zwar sommers wie winters.
700 Höhenmeter überwindet die Seilbahn steil aus dem wilden Valtournenche bis ins Ortszentrum von Chamois auf 1800 Meter Höhe. In wenigen Minuten wird man in eine andere Welt katapultiert: Die wichtigsten Gebäude rund um den Dorfplatz sind die Seilbahnstation, daneben die Kirche; ein von der Schneekugel bis zum BH alles führender Gemischtwarenladen namens Bazar; das hölzerne Rathaus und gleich daneben die Talstation eines alten, orangefarbenen Zweier-Sessellifts, der die Gäste langsam die sanft ansteigenden Südhänge hinaufschaukelt. So muss Skiurlaub 1975 ausgeschaut haben. Ganz oben, heißt es, soll man den Monte Cervino sehen, wie das Matterhorn auf Italienisch heißt. Das ist natürlich ein großes Versprechen.
Autos gibt es keine, das ist mehr als angenehm, die Wege und Straßen zwischen den fünf verschiedenen Ortsteilen sind zum Teil recht steil und jetzt im Winter rutschig. Die Einheimischen und Stammgäste ziehen sich kleine Steigeisen unter die Schuhe. Die Neulinge setzen sich ab und zu auf den Hintern. 101 Einwohner hat Chamois, im Winter wohnen aber nur etwa 60 hier, vor allem ältere Leute. "Das ist unser großes Problem", sagt der Bürgermeister Remo Ducly, ein Endvierziger mit starkem Kinn, der hauptberuflich bei der Seilbahn arbeitet. "Die Überalterung und die Abwanderung der Jungen." Es liege aber sicher nicht daran, dass man hierher nicht mit dem Auto fahren könne, ist er überzeugt. "In den meisten anderen Berggemeinden im Aostatal ist es genauso."
Auf 50 ganzjährig bewohnte Wohnungen kämen in Chamois 350 Zweitwohnungen, perfekt renovierte Steinhäuser und schick ausgebaute Heustadel, hier Rascards genannt, die aber den Großteil des Jahres leer stehen. Auch das ist ein Problem vieler Alpendörfer. "Wir wollen die Besitzer überzeugen, sie zu vermieten, wenn sie selbst nicht da sind", sagt Ducly. Ein Albergo diffuso wäre das Richtige für das Dorf." Wie er ein solches dezentrales Hotel mit verschiedenen Häusern bewerkstelligen will, lässt er aber offen. Im Frühjahr sind Wahlen, und er brennt nicht gerade darauf, das Amt noch einmal zu übernehmen.
Chamois ist Mitglied von Alpine Pearls, einer Vereinigung, die auf nachhaltige Mobilität setzt und auf sanften Tourismus. Das ist hier oben sinnvoll, nicht nur der Bürgermeister betont, wie ideal ein Urlaub mit Kindern in einem Dorf ohne Fahrzeuge sei. Doch zur Talstation der Seilbahn mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu kommen, ist wegen der schlechten Bahn- und Busverbindungen fast unmöglich. An schönen Wochenenden ist der Parkplatz unten überfüllt. "Wir brauchen mehr Shuttlebusse, aber dazu fehlt in der aktuellen Krise das Geld", so Bürgermeister Ducly.
Balderschwang im Allgäu:Es geht auch leise
Höher, steiler, lauter - so funktioniert der Wintertourismus heute meistens. In Balderschwang im Allgäu wird den Gästen ein ganz anderes Erlebnis geboten.
Wer aber erst mal oben ist in Chamois, dem bietet sich bei ausreichend Schnee eine wirklich besondere Spielwiese. Die drei hintereinander gebauten Sessellifte bringen einen bis auf 2500 Meter. Auf beiden Seiten der Pisten gibt es breite, kaum lawinengefährdete Tiefschneehänge. Viele Skitourengeher steigen auch am Rand der Pisten hinauf bis zur Punta Fontana Fredda, einem kleinen Gipfel, der etwas oberhalb der höchsten Liftstation liegt. Von hier, endlich, sieht man das Matterhorn. Es ist von Süden nicht ganz so scharf gezeichnet wie von Zermatt aus, aber immer noch unverkennbar und beeindruckend. Man kann von Fontana Fredda herrliche Tiefschneehänge ins Dorf Cheneil hinunterfahren, immer mit Blick auf den Monte Cervino, muss dann aber mit Fellen wieder ins Skigebiet aufsteigen. Am Talende liegt Cervinia, mit seinem Rummel und den vielen Pistenkilometern die italienische Antwort auf Zermatt.
Von Zermatt sprechen hier viele wie vom Paradies, man möchte gerne eine Liftverbindung zum Valtournenche, das wiederum über Cervinia mit den Pisten Zermatts verbunden ist. Aber die italienische Wirtschaftskrise hat das bis dato verhindert. Für Tourengeher, Schneeschuhwanderer und andere Ruhesuchende ist das gut so. Für Marta Carrara eher weniger. Die blonde, blauäugige Frau Anfang zwanzig hat nämlich gerade vor zwei Monaten das Restaurant Chez Pierina am Dorfrand übernommen, das einst ihre Großmutter Pierina gegründet hat, danach war es aber jahrelang verpachtet.
"Wir brauchen einen größeren Parkplatz und auch die Liftverbindung ins Valtournenche", ist sie überzeugt. Carrara ist eine der wenigen Jungen, die ins Dorf zurückgekommen sind, um etwas zu bewegen. Nach der Hotelfachschule drängte sie ihre Mutter dazu, gemeinsam mit ihr Omas Lokal zu übernehmen. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass das Essen im Chez Pierina wieder gut ist, dass es, wie in alten Zeiten, über dem Feuer gekochte Polenta mit Fontinakäse gibt, gute Suppen und Wild. Das etwas altmodische, holzgetäfelte Lokal ist gut besucht, ein Stammgast schaufelt sich einen Riesenteller Polenta rein und schwärmt darüber. Eine Frau mit Steigeisen und einem an den Bauch geschnallten Baby trinkt am Tresen einen Espresso.
Ihr Baby, erzählt Clarissa Solfanelli, die aus der Toskana stammt, sei der einzige Neugeborene von Chamois seit vielen Jahren. Es senkt jedenfalls den Altersdurchschnitt im Dorf beträchtlich. Eine Schule gibt es schon seit 1985 nicht mehr. "Es wäre schön, wenn noch ein paar andere Familien mit kleinen Kindern hierher zögen", sagt Clarissa Solfanelli. Emilio Lettry würde es sicherlich sehr begrüßen, wenn sich sein Dorf verjüngte. Er habe gehört, dass jemand in Suisse ein Bed & Breakfast eröffnen wolle. "Ich glaube, sagt er, "dass das gar nicht so schlecht wäre." Leute würden kommen. "Ich bin überzeugt", sagt er feierlich, "irgendwann wird hier wieder jemand Milch und Käse herstellen, so wie wir damals."