Cayman Islands:Die Untergeher

Rund um die Cayman Islands ist das Meer so schön, dass man als Taucher gar nicht mehr nach oben will.

Marc Bielefeld

Im North Sound, am Rand der großen Lagune, beginnt das Riff. Kleine Wellen kräuseln sich an der Oberfläche, das Meer ist warm und weich und so durchsichtig wie Glas. Das Wasser: Man will sofort reinspringen. Man will es trinken! Die Farbe, die Reflexionen: Jeder Maler würde sofort aufgeben.

Cayman Islands, Department of Tourism
(Foto: Foto: Cayman Islands Department of Tourism)

Bleigurt festschnallen. Flasche, Flossen und Maske anlegen. Reinspringen! Das Schöne am Tauchen ist, dass der Kopf nicht wie beim Schwimmen noch immer an der Luft ist. Man wird völlig vom Wasser umhüllt. Man wird verschluckt von ihm. Dann fliegt man hinab, langsam und zeitlupenhaft und landet schließlich auf weißem Korallensand.

Ein neues Reich in zehn Metern Tiefe

In zehn Metern Tiefe tut sich ein neues Reich auf wie eine gigantische Halle aus hellblauem Licht. Der Blick durch die Tauchermaske wandert über den leicht gewellten Grund hinauf bis zur Meeresoberfläche, die jetzt hoch oben schwebt wie ein Dach aus Silberpapier. Noch in zwölf Metern Tiefe ist das Meer transparent, selbst die Wolken sind zu sehen, die über die Karibik ziehen und weite Schatten auf die 29 Grad milde See werfen. Das Finimeter zeigt die verbleibende Atemluft in der Flasche an. Noch 200 bar. Genug für eine Stunde im Reich der Stille. Sinkflug.

In der leichten Strömung treiben zwei Taucher am Riff entlang, kopfüber wie Astronauten bei einem Weltraumspaziergang, und richten ihre Unterwasserkameras auf eine große Hirnkoralle. Vor sechs Jahren nach El Niño waren die Korallen hier alle weiß gebleicht. So weiß, als hätte es im Meer geschneit. Doch das Riff hat sich von der Warmwasserplage erholt und leuchtet wieder in Gelb, Rot und Violett.

Ein Irrgarten ist das hier unten, voller mystischer Skulpturen. Die Taucher gleiten über Elchhornkorallen hinweg, über Erdbeerschwämme und die zitronengelben Fächer einer Gorgonie, die sich im Rhythmus der Wellen wiegt. Geköpfte Zwerge ragen ins Meer, armlose Gnome, Trolle, fliegende Untertassen. Unzählige kleine und größere Fische tummeln sich: spanische Grunzer, großmäulige Zackenbarsche und Barrakudas, die wie Düsenjäger aussehen.

Kaum ein Tauchrevier in der Karibik bietet bessere Bedingungen als die Cayman Islands. Mehr als 300 Spots warten vor den Küsten, aquamarin funkelnde Stellen im Meer, die Namen haben wie "The Swimming Pool", "Eagle Ray Roundup" oder "Dynamite Drop". Die Inseln sind nur drei Fleckchen Erde in der Wasserwüste, zusammen gerade mal ein Drittel so groß wie Hamburg. 300 Kilometer südlich von Kuba, 600 östlich von Yucatan gelegen.

Es sind die nur knapp über die Kimm blinzelnden Gipfelplateaus einer gewaltigen unterseeischen Bergkette, die sich von Belize bis zur kubanischen Sierra Maestra erstreckt. Die Inseln sind platt wie Flundern, und in ihrem porösen Boden gibt es keinerlei Flüsse, die schmutziges Wasser ins Meer spülen könnten. Tauchern raubt diese geologische Gegebenheit den Atem. Das Meer ist so klar wie vor keiner anderen Insel der Karibik. Bis zu sechzig Meter weit können Aquanauten durch die blaue Endlosigkeit glotzen.

Die Untergeher

Dabei ist es nicht das Meer, für das die Inseln berüchtigt sind. Die Caymans gelten vor allem als Steuerparadies und Bankenhimmel. Als Zufluchtsort für Milliardäre und Geldwäscher. Aber wen interessiert schon die Welt da oben?

Cayman Islands, Department of Tourism
(Foto: Foto: Cayman Islands Department of Tourism)

In 18 Meter Tiefe flackern Muster aus Licht auf dem Grund. Ein großer Adlerrochen fliegt über das Riff. Erhaben und mühelos segelt er dahin, zieht eine Korallenwand empor und entschwindet. Hinter Steinen und Korallen lugen auf einmal krustige Geschöpfe hervor: Krötenfische und Hechtschleimer. Koryphäen der Evolution.

Blitzartig schlägt der Anglerfisch zu

Ein Monster mit Glubschaugen liegt regungslos neben einer Muschel. Aus seinem Kopf wächst ein dünner Tentakel mit einem perfekt gefälschten Köder am Ende, den vorbeischwimmende Fische von Plankton nicht unterscheiden können. Dann beißt der Anglerfisch zu. Blitzartig bläst sich sein Maul zu zwölffacher Größe auf; das Opfer wird in einer sechstausendstel Sekunde in seinen Rachen gesogen wie in ein schwarzes Loch. Kein Wirbeltier der Welt - Forscher haben es gemessen - schlägt schneller zu.

Verrückte Alchimisten hier unten! Zwei Meter weiter verschwindet ein kleiner Blaukopfjunker im Maul eines Papageifisches. Ein Saubermacherfisch, der dem großen Bruder durch die Mundhöhle schwimmt, ein milchiges Sekret aussondert und Parasiten frisst. Nahrung für den einen, Zähneputzen für den anderen. Die perfekte Symbiose am Riff, diesem bis zu den Mikroorganismen makellos organisierten Ökosystem. Seit mehr als 200 Millionen Jahren hat es sich selbst erprobt - ohne Menschen, ohne Computer und nicht mehr zu verbessern. Doch nicht die Fische und die Korallen sind das Unglaubliche. Das Wasser ist es. Seine blauen Bilder. Sein Spiel mit Sonne und Himmel. Seine wundersame Fähigkeit, die Schwerkraft zu überlisten.

Senkrechte Abstürze

Stehen im Nichts. Vier Meter weiter eine Steilwand, die so senkrecht abstürzt, dass einem schwindelig wird. Die Strahlen der Sonne stechen nach unten, ein filigranes Bündel aus Licht, das sich erst in 300 Metern Tiefe verliert. Magische Bläue dämmert aus den Abgründen herauf. Danach beginnt die ewige Schwärze. Bis auf über 7000 Meter reichen die gewaltigen Gräben und Schluchten vor den Inseln hinunter, die tiefsten der Karibik.

Mit kurzem Blubbern entweicht die Luft aus der Tarierweste. Der Auftrieb schwindet. Und dann der Sturzflug in die Leere. 20, 25, 30, dann 40 Meter. Das Limit für Sporttaucher, die nicht im Rausch enden wollen. Der fünffache Oberflächendruck lastet jetzt auf dem Körper. Mehr als acht Minuten "Bottom Time", sagt der Computer, sind nicht drin. Sonst würden sich Blut und Gewebe langsam mit Stickstoff sättigen, ein direkter Aufstieg ohne Dekompressionsstopps wäre nicht mehr möglich. Der Stickstoff würde ausperlen wie in einer durchgeschüttelten Sprudelflasche. Die Folgen: Kribbeln, Lähmungen, schlimmstenfalls der Tod.

Die Untergeher

In 42 Metern Tiefe ist nur noch das eigene Atmen zu hören, während die Steilwand weiter ins Bodenlose abkippt. Wenn man sich auf den Rücken dreht, gewöhnen sich die Sinne nach einigen Momenten daran, dass die ganze Welt Kopf steht. Die Meeresoberfläche ist bald nur noch eine Sphäre aus diffusem Licht.

Cayman Islands, Department of Tourism

Der mit den Rochen tanzt... Tauchen vor den Cayman Islands

(Foto: Foto: Cayman Islands Department of Tourism)

Der Amerikaner Bob Soto war 1957 einer der Pioniere, welche die unglaublichen "Drop-offs" vor den Caymans entdeckten. Er gründete die erste Station für Hobby-Aquanauten, und seit den 1980ern gelten die Inseln als Traumziel für Untergeher. Inzwischen reist ein Drittel aller Cayman-Besucher an, um das Meer von unten zu bestaunen. Doch dann kam, was irgendwann kommen musste. Es war der 12. September 2004. Der Tag des großen Sturms.

Verwüstungen durch Hurrikan "Ivan"

Hurrikan Ivan hatte im Golf von Mexiko bereits eine 28 Meter hohe Welle aufgetürmt. Nun schraubte er sich mit einer 1500 Kilometer weiten Tiefdruckspirale und brachialen Winden zielgenau heran. Sein Kurs war Grand Cayman. Und dann folgte der Tag, als die Menschenwelt aufs Meer hinaus flog und den Fischen auf die Köpfe krachte. Nachdem sich der Himmel drei Tage lang verdunkelt hatte und der Luftdruck auf 968 Hectopascal gesunken war, wussten alle Meeresbewohner, die nicht in die Tiefen flüchten konnten, dass sie sich bald würden verstecken müssen. In den Spalten, Nischen und Ritzen des Riffs. Hauptsache irgendwo.

Acht Meter hoch rollten die Wellen heran und zerschmetterten alles. Sie spülten Snapper auf die Straßen und katapultierten Tarpune in die Süßwasserteiche. In der Nacht kam der Wind. Häuserdächer flogen übers Wasser und wurden in den weißen Wellen zerrissen. Motoryachten hingen wie groteske Kreaturen in den Bäumen und wurden neben toten Hunden auf die schäumende See geschleudert.

Die Neonreklame einer Bank raste vier Kilometer weit durch den peitschenden Regen und stieß erst weit draußen vor Seven Mile Beach in den Ozean. Und dann regneten die kleineren Spuren der Menschenwelt aufs Riff hinab: Mikrowellen, Lippenstifte, Handys, Reifen. Erst nach vier Tagen kroch die Sonne hinter den Wolken hervor. Die Fische schlüpften aus ihren Verstecken und schwammen über das Riff, das dem Sturm fast schadlos getrotzt hatte.

Die Untergeher

Oben an Land hingen die Inseln in Fetzen. Verbogen, verkeilt, verweht. Inzwischen ist die Trümmerwelt wieder aufgebaut, bis auf die zerrütteten Palmenplantagen und den Bauschrott in zweiter Reihe. An den Ocean Fronts stehen jetzt Hotels, größer, prunkvoller denn je. Die Straßen sind repariert, die Supermärkte, alle wiedereröffnet, und die Taucher sind zurück. Bei "Trinity Caves" schwimmen sie durch ein Labyrinth aus Gängen und Höhlen. Silbriges Licht bricht von oben herab, dann öffnen sich auf einmal Grotten und Unterwasserkathedralen. Gespensterkrabben krebsen über den Grund, an den Felsen hängen winzige Schrimps mit Beinen so dünn wie Spinnweben. Geisterwelten.

Cayman Islands, Department of Tourism

Wracktauchen in den Überresten eines russischen Kriegsschiffes

(Foto: Foto: Cayman Islands Department of Tourism)

Vom Sturm gibt es keine Spuren. Als Ivan fort war, taten sich alle 40 Tauchbasen auf den Caymans zusammen und suchten die Küsten systematisch ab. Sie scharten allen Schrott, den sie finden konnten, zusammen und brachten ihn in wochenlanger Kleinarbeit aus dem Meer. Auf 14 Metern Tiefe, oben vor der Nordküste in spüligrünem Wasser, wogt lediglich ein einsamer, rosafarbener Damenschuh noch immer zwischen dem Seegras, vermodert und längst von Algen umhüllt. Ein unheimliches Zeichen für die Übermacht des Sturms.

Der tägliche Tanz der Stachelrochen

Draußen in der Lagune gibt es eine sehr flache Stelle im Meer, die See wirkt weiß und lichtgeflutet. Nur einen Meter tief zieht sich der Sand unter der kristallinen Oberfläche dahin. Plötzlich trampeln Hunderte dicke, weiße Beine im seichten Wasser herum. Ein Wald aus Menschenleibern stampft und zappelt im Meer: Auch die Kreuzfahrer sind zurück. Vor Georgetown werden die Seereisenden in kleine Boote verladen und scharenweise in die Lagune nach "Stingray City" geschippert, in die "Stadt der Stachelrochen".

Und dann sausen die Meeresflieger heran. Zentimeter über dem Sand kommen sie in Geschwadern herbeigeflogen, weil die Rochen täglich mit kleinen Tintenfischen angefüttert werden. Sie haben sich an das Spektakel und die Touristen gewöhnt. Die längst zahmen Rochen lassen sich berühren. Einer legt sich einem großen Amerikaner beinahe auf den Kopf und schmiegt sich mit den Unterseiten seiner samtweichen Schwingen hautnah heran. Stingray City ist eine Streichelwiese und ein maritimes Marketingtool. Sogar die lokale Brauerei macht mit den Rochen Reklame. "Stingray Beer" steht auf den braunen Flaschen.

Umhüllt von tiefschwarzer Dunkelheit

Doch dann kommt die Nacht und mit ihr ein Ausflug in den Kosmos der Biologie, ein Abtauchen in die Geheimwelt des verdunkelten Ozeans. Das Boot ankert am "Lea Lea's Lookout". Dann beginnt die Reise hinab in das völlig schwarze Wasser. Wie illuminierte Quecksilberkugeln perlen die Blasen der Taucher nach oben. Die Lichter ihrer Lampen staksen Laserschwertern gleich durch die Finsternis. Die kleinen Fische haben sich verkrochen, das Meer ist wie leergefegt.

Zu dieser Zeit steigen die mächtigen Jäger, die Riffhaie, Marlins und Thunfische, aus den Tiefen auf, um zu fressen. Bizarre Wesen kringeln sich im Meer. Durchsichtige Würmer zucken durchs Nichts, Oktopusse ziehen wie Raumschiffe daher. Die Taucher werden von Myriaden pulsierender Meeregel umhüllt, die sich vor den Masken drängeln und in die Ohren quirlen. In den dunklen Nächten vor Neumond treiben ganze Nebel von Larven in den Strömungen. Milliarden klitzekleiner Fischeier, zusammengepfercht in hellen Fladen, stieben durchs Wasser.

Weiter sinken, immer weiter, dorthin, wo es jetzt ruhiger und leerer wird. Die Lampe blitzt über dem Tiefenmesser. 22 Meter. Rundherum spukige Düsternis bis auf die umherirrenden Lichtsäulen der anderen Taucherlampen. Im Lichtkegel wird eine knochige Koralle erkennbar, in der ein Diademfisch schläft. Dann, nur für einen Moment, wenn man die Lampe ausschaltet und die Luft anhält: Stille. Totale Schwärze. Driften im Universum. So ungefähr müssen sich die drei Männer in der havarierenden Kapsel von Apollo 13 gefühlt haben. Sie flogen damals an der Rückseite des Mondes entlang, mit Stromausfall an Bord.

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