Calgary nach Olympia:Abschied von der Prärie

Spuren der Spiele: Was passiert, wenn der Rummel vorbei ist und die Fernsehkameras abgeschaltet sind? Calgary haben die Olympischen Spiele aus der Krise geholfen.

Thomas Becker

Am 12. Februar beginnen die 21. Olympischen Winterspiele in Vancouver. Das Spektakel rückt die kanadische Stadt in British Columbia in den Mittelpunkt des internationalen öffentlichen Interesses. Doch was passiert, wenn der Rummel vorbei ist und die Fernsehkameras abgeschaltet sind? Was bleibt von olympischen Bauten, wirtschaftlichen Erfolgen und persönlichen Erinnerungen? Diesen "Spuren der Spiele" gehen wir an vier ehemaligen Austragungsorten nach, an einem zukünftigen beobachten wir die Vorbereitungen.

Skyline Calgary; Reuters

Was für Olympia galt und gilt, gilt nunmehr auch für Calgary: schneller, höher, stärker.

(Foto: Foto: Reuters)

Von oben betrachtet, vom Calgary Tower aus, knapp 200 Meter über den Dingen, sieht die Olympic Plaza aus wie eine andere Welt. Im Winter ist sie eine kleine weiße Fläche inmitten des asphaltversiegelten, omnipräsenten Hochhausgraus, im Sommer eine baumgrüne Oase. Auch aus der Nähe betrachtet, auf Augenhöhe, will das Plätzchen nicht so recht in diese doch eher vertikale Innenstadt passen. Ringsum rauscht der Verkehr. Drei verloren wirkende Schlittschuhläufer gleiten übers Eis. Ein Schild mahnt: ,,Pleasure skating only! No hockey!'' Lärmende Eishockeyspieler würden auch nicht in dieses Stadtidyll passen.

Schwer vorstellbar, dass dieser kaum fußballfeldgroße Platz mal der bedeutendste der ganzen Stadt und zwei Winterwochen lang für manchen Sportler der bedeutendste der Welt war. Wer sich die steinernen Torbögen genauer ansieht, kommt allmählich hinter das Geheimnis: "Citius, altius, fortius" steht da in Stein gemeißelt. Schneller, höher, stärker - das olympische Motto. 1988 fanden hier vor Zehntausenden Zuschauern die meisten Siegerehrungen der Winterspiele statt. Letztlich ist der Platz aber auch das Symbol für ein Ereignis, das der Stadt aus einer schweren Krise half und von dem sie noch heute profitiert. Denn was für Olympia galt und gilt, gilt nunmehr auch für Calgary: schneller, höher, stärker - das Motto der am schnellsten wachsenden Stadt Kanadas.

Einige Sportler erlebten an der Olympic Plaza den Höhepunkt ihrer Karriere. Einige, wie die zweimaligen Goldmedaillengewinner Katarina Witt und Alberto Tomba, sind vielen im Gedächtnis geblieben, andere dagegen beinahe in Vergessenheit geraten. Hier erinnert etwa ein Dutzend Bronzeplatten an die Besten von damals. Heute hat kaum noch jemand einen Blick dafür - bis auf die kleine Sportler-Reisegruppe aus Deutschland, die sich vor den Platten gegenseitig fotografiert: Es sind Medaillengewinner von 1988. Frank-Peter Rötschs Platte ist die dritte von links, er gewann zwei Mal Gold im Biathlon, sein Gegner aus der Bundesrepublik, Peter Angerer, holte Silber. Eisschnellläuferin Christa Luding-Rothenburger ist für die DDR als Gold- und Silbermedaillengewinnerin verewigt, Mannschaftskameradin Karin Enke-Richter gewann Silber und Bronze.

Letztere kannten die Olympic Plaza gar nicht. "Ich wusste nicht, dass ich hier in Bronze liege", erzählt Enke-Richter, "wir wurden im Olympic Oval, im Eisschnelllaufstadion, geehrt." Viele Jahre war sie die beste Eisschnellläuferin der Welt. Sie beendete kurz nach Calgary ihre Karriere. Es waren die letzten Spiele mit zwei deutschen Mannschaften, und wenn die DDR-Athleten erzählen, klingt es, als sei es viel länger her als zwei Jahrzehnte. "Wir konnten uns in der Stadt frei bewegen, alles anschauen", erzählt Rötsch, "aber halt ohne Pass. Der wurde an der Grenze einkassiert."

Ein Kaff in der Prärie

All das ist weit weg an diesem grauen Wintertag im Künstlerviertel von Calgary. Und so spannend der architektonische Kontrast zwischen dem alten, viktorianischen Rathaus und dem daneben platzierten neuen Raumschiffgebäude an der Olympic Plaza auch sein mag - es zieht einen weiter die angrenzende Stephen Avenue hinab, ins Herz des alten und in die Einkaufsmeile des neuen Calgary.

Eiskanal Calgary; AFP

Wenn im Eiskanal nicht gerade ein Weltcup-Rennen stattfindet, können mutige Touristen einen Profi auf der Höllensause begleiten.

(Foto: Foto: AFP)

Sie war schon immer auch die Seele der Stadt gewesen, lange bevor es die Olympic Plaza überhaupt gab. Namensgeber ist George Stephen, der erste Präsident der kanadischen Eisenbahngesellschaft, deren Bedeutung für die Entwicklung der Region noch größer ist als die der Olympischen Spiele viele Jahre später. Vor der Ankunft der Eisenbahn im Jahr 1883 bestand Calgary aus 16 Holzhütten, neun Tipis und Fort Calgary. Der Name kommt aus dem Schottischen und bedeutet "Strand an der Wiese". Mehr war Calgary nicht: ein Kaff in der Prärie, 1860 von Bisonjägern besiedelt, welche die Blackfoot-Indianer vertrieben.

Größtes Skywaysystem der Welt

Mit der Bahn wurde alles anders. Von ihrem Generaldirektor W.C. van Horne stammt der Satz: "Wenn wir die Szenerie nicht exportieren können, importieren wir die Touristen." Spektakuläre Hotels entstanden an den schönsten Flecken der Bahnstrecke durch die Berge: in Banff, Jasper und Lake Louise. Eigentlich schade, dass man diese wunderbaren Flecken nicht in die Winterspiele integrierte. Aus der "Cow-Town" Calgary wurde durch die Eisenbahn eine Stadt des Einzelhandels. Ihr Zentrum war stets die 8th Avenue, später Stephen Avenue. Flache Sandsteinbauten im viktorianischen und im Art-déco-Stil haben neben den Glitzerfassaden der Ölkonzerne überlebt. Eine für nordamerikanische Verhältnisse fast heimelige Fußgängerzone ist so entstanden, mal abgesehen von den "Plus 15 Skyways": oberirdische, geschlossene Fußgängerbrücken zwischen zwei Gebäuden, 15 Fuß (fünf Meter) über der Erde. 59 solche Brücken verbinden Shopping Malls und Büros. Mit 16 Kilometern Länge ist es das größte Skywaysystem der Welt.

Olympia war nur ein Ereignis auf dem Weg Calgarys zu Wohlstand. Von anderen Blütezeiten künden ein paar Tafeln in der Stephen Avenue. Zum Beispiel von 1909, als eine Rekordernte die Stadt um das Dreifache wachsen ließ. Oder von 1912, als in der 8th Avenue erstmals eine Parade veranstaltet wurde, die sich über die Jahre zur größten Freiluft-Ausstellung der Welt mit 1,5 Millionen Besuchern auswachsen sollte: die Calgary Stampede, ein zehn Tage währender Rodeo-Wahnsinn mit Planwagenrennen, Countrymusik und allmorgendlichem kostenlosen Pfannkuchenfrühstück. Den nächsten Entwicklungssprung verdankte Calgary riesigen Vorkommen an Öl und Gas, die Ende der 1960er Jahre entdeckt wurden. Innerhalb weniger Jahre wurden fast 500 Firmen gegründet. Von 1971 bis 1987 wuchs die Bevölkerung von 400.000 auf fast 650.000.

Mehr als eine Million Menschen

Idealerweise fielen die Olympischen Spiele mit dem Niedergang des Ölbooms zusammen. Das Großereignis zwang zu Investitionen in allen Bereichen, wovon die Stadt noch immer zehrt. Seit Olympia war lange Zeit in allen Bereichen wieder Wachstum zu verzeichnen: Wirtschaft, Bevölkerung, Tourismus - auch wenn man den Flair eines Skiortes vergebens sucht, und die meisten Gäste vor allem wegen Calgarys Nähe zu den Rocky Mountains kommen. Die Arbeitslosenrate ist trotz einer Verdoppelung auf sieben Prozent in den vergangenen 18 Monaten noch immer relativ gering. Mehr als eine Million Menschen leben mittlerweile in Calgary, auf einer Fläche größer als New York City.

Mit 140 Sachen ins Tal

Kanadische Flagge; AP

Calgary ist die am schnellsten wachsende Stadt Kanadas.

(Foto: Foto: AP)

Die Spiele selbst waren gelungen und stimmungsvoll, mit denkwürdigen Momenten: Michael Edwards alias Eddie the Eagle, der britische Harakiri-Skispringer mit den sehr dicken Brillengläsern, hüpfte jubelumtost von der Schanze. Nebenan im Eiskanal war nicht nur der rodelnde Georg Hackl zugange, auch vier Bobfahrer aus Jamaika waren unterwegs. Ihre Geschichte kam ins Kino, ihr Bob blieb da und steht heute im Museum des Canada Olympic Parc.

Das Areal am Stadtrand ist das Revier von Rodel-, Bob- und Skifahrern geblieben und ein schönes Beispiel dafür, wie man teuer errichtete olympische Sportstätten auch danach sinnvoll nutzt. Auf einer wenn nötig mit Kunstschnee beschneiten Skipiste übt der Nachwuchs auch abends bei Flutlicht. Wenn im Eiskanal nicht gerade ein Weltcup-Rennen stattfindet, können mutige Touristen einen Profi auf der Höllensause begleiten. Nebenan im "Ice House" üben die Rodler auch im Sommer, zumindest den Start.

Sehr nostalgisch

Überhaupt werden nahezu noch alle olympischen Sportstätten genutzt, von Profis und Breitensportlern, auch wenn dem Skigebiet von Nakiska die Konkurrenz namens Lake Louise und Banff längst den Rang abgelaufen hat. Saddledome und Olympic Oval beherbergen weiterhin Eishockeyspieler und Eisläufer. Die Skisprungschanze entspricht zwar nicht mehr internationalen Standards, doch auch dort kann man beim "Skyline Ride" Mut beweisen und an einem Drahtseil über der Anlaufspur hängend mit 140 Sachen gen Tal donnern. Falls es zu kalt ist, begnügt man sich mit einem Dinner im Sprungturm, Panoramablick über die Stadt inklusive. "Wir sind schon sehr nostalgisch, was Olympia 1988 betrifft", sagt Tourismus-Ministerin Cindy Ady - und strahlt.

Viereinhalb Millionen Besucher kommen pro Jahr; fast jeder fährt einmal den Calgary Tower hinauf, blickt auf die 80 Kilometer entfernten Rocky Mountains und die Hochhäuser, Zeugnisse des Aufschwungs. Auch der Saddledome ist zu sehen, wo die Calgary Flames vor 20.000 Zuschauern um den Stanley Cup kämpfen, die wichtigste Trophäe im Eishockey. Ein Jahr nach den Olympischen Spielen haben sie ihn geholt, gefeiert wurde auf der Red Mile im Penny Lane Entertainment District. Den Pokal präsentierte die Mannschaft den Fans aber andernorts: an der Olympic Plaza, diesem kleinen Flecken für besondere Anlässe.

Westler und Ostler zusammen

Auch Peter Angerer, der Biathlet aus der deutschen Reisegruppe, hat einige Erinnerungen abgespeichert: "Die haben den Rötsch und mich mit dem Heli zur Siegerehrung eingeflogen. Der Platz war voller Menschen. Es war Abend, und wir hatten Bierdosen dabei." Die haben sie natürlich zusammen geleert, der Westler und der Ostler. Schließlich liegen sie ja auch zusammen in Bronze herum, auf diesem kleinen Platz mitten in Calgary.

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