Wer die Kultur der Ureinwohner von British Columbia in der Großstadt Vancouver kennenlernen will, muss nicht ins Museum gehen. Ein Treffen mit Alfonso Calvin Salinas im Stanley Park ist da lebensnäher. Aber die eine Kultur gibt es nicht bei den circa 200 000 First-Nations-Angehörigen, die allein in British Columbia leben, die knapp 200 Völkern angehören, mit jeweils eigenen Sprachen und Traditionen. Alfonso Salinas hat zum Beispiel Wurzeln in drei Völkern, aber erst mit 13 Jahren lernte er die Tänze und Gesänge seiner Vorfahren kennen - von seinen Großeltern. Heute, als junger Mann, ist er Trommelschläger und Speertänzer, eine wichtige Funktion im Familiengefüge, wie er erklärt. Mit 13 begann das, was er seinen Heilungsprozess nennt. Dazu gehört auch, dass er nun als Erwachsener die Sprache seines Volkes erlernt. Und dass er dessen Traditionen und Gebräuche als Guide Touristen näherbringt.
Dabei geht es nicht nur um Folklore, sondern auch um Schmerzhaftes. Er erklärt, was es bedeutete, dass Indigene Jahrhunderte an Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt haben. Und dass damit nun Schluss sein soll. Der kanadische Staat hat den Weg der Versöhnung beschritten, seit sich Premierminister Justin Trudeau im Februar 2018 unter Tränen offiziell bei den First Nations Kanadas für deren erlittenes Unrecht entschuldigt hat. Doch mit einmal sorry sagen sei es nicht getan, meint Salinas. "Sieben Generationen wurden seelisch, sozial und oft auch physisch misshandelt", sagt er, sieben Generationen dauere es nun, bis diese Wunden verheilt seien. Er spricht von den Internatsschulen, in denen nicht nur eine Unzahl von Kindern ihren Eltern und ihren Wurzeln entfremdet wurden, sondern von Priestern und Ordensschwestern häufig schwer misshandelt wurden, auch sexuell.
Er, Salinas, sei in der dritten Generation des Heilungsprozesses. Und weil man als Besucher das alles erst einmal verarbeiten muss, schlägt er nun im Stanley Park zwischen uralten Zedern und Douglasien seine Trommel und singt dazu den Chief Dan George Song. Er handelt von Harmonie und Versöhnung. Trommeln und singen im Stanley Park, also mitten in der Stadt, findet er selbstverständlich, "schließlich war und ist das alles hier unser Land".
Doch die Zeiten, so scheint es, sind vorbei, dass First Nations nur im Zorn zurückblicken, vielmehr sucht eine neue Generation Versöhnung und Heilung aus eigener Kraft. Dazu gehört, dass sie mit Selbstbewusstsein für sich selbst sprechen und als Touristenführer, Gastgeber und Künstler ihren Platz in der Gesellschaft beanspruchen. Salinas hat das Lied nicht zufällig gewählt: Chief Dan George, 1981 mit 82 Jahren gestorben, war Häuptling der Tsleil-Waututh Nation, obendrein Schauspieler, Musiker und Schriftsteller - ein Vorbild, ein Mutmacher für die junge Generation der First Nations.
Vielerorts in British Columbia lässt sich dieses Erwachen beobachten. Auch auf Vancouver Island. Dort steht zum Beispiel die 25-jährige Karissa Glendale am Steuer eines Motorboots. Glendale ist klein, zierlich, aber selbstbewusst. Sie arbeitet als Gästeführerin bei Sea Wolf Adventures, einem lokalen Touranbieter. Firmenchef Mike Willie beschäftigt nur indigene Mitarbeiter. Wenn seine Boote nicht mit Touristen unterwegs sind, setzt er sie als Taxis ein, um Mitglieder der indigenen Community zu chauffieren, die in abgelegenen Buchten leben.
Vom Land, ihrem Land, sprechen die First Nations oft. "Being on the land", also auf dem eigenen Territorium zu leben, ist ein tief verwurzelter Wunsch, erklären Karissa Glendale und ihre Kollegin Sherry Moon, 36. Sie bringen die Gäste in ihre Siedlungsgebiete, führen sie auf alten Pfaden in den Lebensraum der Grizzlybären. Auf dem Weg dorthin - im Knight Inlet, im Thompson Sound oder im Bond Sound -, zeigen sie ihnen Weißkopfseeadler, die im Flug ihre Krallen geschickt in einen Fisch schlagen, Seelöwenbänke, Seeotter und mit etwas Glück auch Orcas. Wenn sie von Bären und den jahrhundertealten Baumriesen erzählen, ist spürbar, welch enge Verbindung sie zur Natur - besonders zu den Tieren - haben.
Deshalb engagieren sich Karissa Glendale und Sherry Moon auch als Umweltaktivistinnen. Karissa hat einige Berühmtheit in den sozialen Medien erlangt, weil sie nahezu ein Jahr lang die Plattform der Swanson-Island-Lachsfarm blockiert hat. "Diese Farmen gefährden die Bestände des heimischen Lachses", erklärt Glendale. Sie liegen auf der Wanderroute des pazifischen Lachses, der im Herbst zurück in die Flüsse schwimmt, um dort abzulaichen. In den Becken aber wird atlantischer Lachs gezüchtet, der pazifischen Lachs mit einem Virus infiziert. Schon jetzt seien 80 Prozent des heimischen Bestandes von dem Virus befallen, das Herz, Muskeln und Kiefer der Lachse schädige.
In einem schwimmenden Zelt hat sie in Kälte, Regen und Sturm ausgeharrt. Sherry Moon und andere Helfer versorgten Karissa mit allem Nötigen. Vor allem aber filmten sie die Aktion und posteten täglich neue Videos mit prominenten Unterstützern und Chiefs, die zu Besuch kamen. Am Ende war der öffentliche Druck zu groß, Das Unternehmen Marine Harvest sagte zu, den Standort aufzugeben. "Das Problem ist dadurch nicht gelöst, sondern nur verlagert", sagt Karissa.
Eine Alternative, um nachhaltige Jobs für die indigene Bevölkerung zu schaffen, ist das Projekt Muschelfarm. In einer entlegenen Bucht im Gebiet der Gwa'ala-'Nakwaxda'xw wachsen in reinstem Meerwasser Austern und Jakobsmuscheln. Die Farm ist eines von mehreren Unternehmen der K'awat'si Economic Development Corporation (KEDC), zu der auch Hotels und eine Baufirma gehören, alle von lokalen Indigenen betrieben. Dieses Jahr soll es erstmals Bootstouren zur Muschelfarm mit Austernverkostung geben.
Auf dem Weg dorthin steuert Bootsführer Eddie Walkus durch einen Irrgarten von bewaldeten Inselchen, vorbei an einsamen Stränden und Beerdigungsstätten der Chiefs - und schließlich um eine Insel, um die herum eine der stärksten Strömungen der Welt wirbelt. Wie dieser Ort heißt? "Keine Ahnung", sagt Eddie Walkus und grinst, "ich nenne es Kloschüssel." Zum Abschied sagt er, wichtig sei nicht, wie ein Ort heißt, sondern: "Überall, wo du heute warst, warst du auf unserem Land."