Brasilien:Rio macht dich locker

Kurz vor den Olympischen Spielen gibt es viel Kritik am Austragungsort Rio de Janeiro. Doch es gibt genügend Gründe, diese Stadt zu lieben.

Von Boris Herrmann

Die Stadt muss derzeit einiges aushalten. Bei den Olympischen Spielen wollte sich Rio de Janeiro als die Metropole des 21. Jahrhunderts präsentieren, doch im Vorfeld meckerten viele über den Schmutz, die Gewalt, die Krise und die Korruption. Dabei hat Rio viel mehr zu bieten.

1. Die Musik

Der in großen Teilen Lateinamerikas omnipräsente Latino-Pop gehört zweifellos zu den besseren Gründen, die Südhalbkugel zu meiden. Rio de Janeiro ist da eine wohlklingende Ausnahme. Die Stadt hat der Welt drei bedeutende Musikstile geschenkt: den Samba, den Bossa Nova und den Baile Funk. Alle drei haben ihre besten Zeiten schon hinter sich, und doch prägen sie weiter den besonderen Klang von Rio. Samba und Bossa Nova funktionieren generationsübergreifend. In Deutschland ist es nahezu undenkbar, dass Alte und Junge dieselben Volkslieder singen, in Rio ist das normal.

Was gerade beim Bossa Nova (etwa: "das neue Ding") süchtig macht, ist der Eindruck des Desafinado, des leicht Verstimmten, dazu der beständig geschlagene Off-Beat sowie die dünnen Stimmchen der Pioniere Tom Jobim und João Gilberto. Eher gehaucht als gesungen, ist dies die bleibende Musik aus einer Zeit, in der sich die Welt halbwegs einig war, dass das Paradies an der Copacabana liegt.

2. Die Berge

Stadtstrände gibt es auch in Miami, Sydney und Rostock. Was Rio einzigartig macht, sind die Stadtberge. Bizarre Granitformationen zerteilen diese Metropole in lauter handliche Ministädte. Und mittendrin befindet sich das Massiv des Tijuca-Nationalparks mit dem größten städtischen Regenwaldgebiet überhaupt. Man muss in Rio nicht raus ins grüne Umland fahren, sondern kann gleich von zu Hause aus mit dem Kletterseil loswandern. Zum Beispiel auf den Zuckerhut, der erstmals 1817 von dem britischen Kindermädchen Henrietta Carstairs bestiegen wurde. Schon die wusste offenbar: Von oben sind die Strände besonders hübsch.

3. Die Körperkultur

Bei den drei bekanntesten Rio-Klischees (die Allgegenwärtigkeit von Fußball, Samba und formschönen Strandkörpern) muss man etwas genauer hinsehen. Das mit dem Fußball und dem Samba stimmt tatsächlich. Was das Feld der Erotik betrifft, so ist zunächst einmal festzuhalten: Rio ist die Stadt der Dicken. Das Angenehme daran ist, es hält die Cariocas, wie sich die Einwohner Rios selbst nennen, trotzdem nicht davon ab, überall Körper zu zeigen.

Man ist fast überall auch mit Flipflops und kurzer Hose gut angezogen. Und der "Fil-Dental", der Zahnseide-Bikini, wird auch von jenen Damen mit Stolz zur Schau getragen, die sich in anderen Teilen der Welt in Umstandskleidung hüllen würden. Natürlich kürt Rio auch eine Schönheitskönigin der Übergewichtigen. Für die olympische Eröffnungsfeier am 5. August wird dennoch das Topmodel Gisele Bündchen aus dem Süden des Landes reaktiviert.

Kindergeburtstag, Torf-Lieferung und ein Ufo

4. Die Kinderliebe

Wenn man in Rio auf einer Party landet, bei der die Musik zu laut ist, um das eigene Wort zu verstehen, wenn es dort eine Tanzfläche mit Lichtorgel und Rauchmaschine gibt, mindestens einen Alleinunterhalter, eine Catering-Agentur sowie einen separaten Raum, um die Geschenke abzuladen, dann kann es gut sein, dass es sich um die Geburtstagparty eines Zweijährigen handelt.

Kinder werden in Rio wie Götter verehrt. Für Buggys bilden sich überall Gassen. Wer ein Baby auf dem Arm hat, der wartet an keiner Supermarktkasse, auf keinem Amt, vor keinem Museum. Die professionelle Fotografie von prallen Schwangerschaftsbäuchen ist in diesem Kinderparadies eine führende Kunstgattung. Da kann das alte Europa noch was lernen.

5. Die Bringdienstkultur

Man kann in Rio nicht alles kaufen, es bestehen etwa erhebliche Versorgungslücken bei reißfesten Taschentüchern, Quark oder funktionierenden Waschmaschinen. Alles, was käuflich ist, wird dafür gerne klag- und kostenlos nach Hause geliefert - am liebsten per Zweirad. Ein großer Teil dessen, was die Supermärkte absetzen, rollt Tag für Tag auf Fahrrädern mit Frontladern durch die Stadt. Die Lieferanten kommen aber auch schon wegen einer Packung Aspirin, einem frischen Fisch oder zwei Brötchen angeradelt.

Es gibt sogar eine Art Bringdienstleistungssektor. Derzeit macht ein originelles Fahrrad-Start-up von sich reden, das einmal pro Woche den Kompost abholt und im Gegenzug ein Eimerchen Torf dalässt. Der Mann, der nach einem Anruf fachmännisch vor Ort die Fahrradreifen aufpumpt, kommt allerdings mit dem Moped angeknattert.

6. Die Architektur

Man sagt, in Rios Satellitenstadt Niterói hätten die Bewohner früher ihre Nummernschilder abgeklebt - vor Scham, weil es dort so hässlich war. Eine Perle ist Niterói bis heute nicht, aber die Leute haben inzwischen etwas, worauf sie stolz sein können, weil es sogar die selbstverliebten Cariocas von der anderen Seite der Bucht anlockt: das 1996 eröffnete Museum für zeitgenössische Kunst, eines der späten Meisterwerke Oscar Niemeyers, das aussieht wie ein Ufo, das gerade gelandet ist. In Rio hat der größte aller brasilianischen Architekten unter anderem das Sambódromo entworfen.

Auf Niemeyer und den Landschaftsarchitekten Burle Marx geht das meiste zurück, was diese Stadt jenseits ihrer Naturkulisse sehenswert macht. Sie schenkten ihr fließende Linien, schräge Wände, Schwung und Sinnlichkeit. Vor allem aber: etwas Eigenständiges. Einen Hauch von Fortschrittlichkeit, der aber nie versuchte, Europa nachzuäffen. Im kolonial geprägten Südamerika ist das nicht selbstverständlich.

Geeistes Bier, Hippi-Hoppi vom Laptoppi und gefährliche Mangos

7. Die Getränke

Es lohnt sich immer noch nicht, wegen der brasilianischen Küche nach Rio zu kommen. In der Regel werden dort Fleischberge mit Bohnen serviert, harte Kost, die man bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von 27,2 Grad erst einmal runterkriegen muss. Zum Glück hat sich die Getränkekultur besser an die Klimatabelle angepasst. Die Rede ist hier weniger vom eisgekühlten Caipirinha, den vor allem Touristen zu schätzen wissen. Die Einheimischen sind militante Biertrinker. In Rio wird vermutlich das kälteste Bier der Welt ausgeschenkt, im Zweifelsfall lieber knapp unter als über dem Gefrierpunkt. Eine der führenden Marken heißt nicht umsonst Antarctica. Nur Spötter sagen, dass es deshalb so frostig ist, damit man nicht schmeckt, wie es schmeckt.

8. Die Sprache

"Tem Hippi-Hoppi no seu Laptoppi?" So hört es sich an, wenn sich einer beim DJ ein Hip-Hop-Lied wünscht. Bei der Aussprache des brasilianischen Portugiesisch kommt es gerade im Sprachraum Rio auf die Endung an. Allen Wörtern, die sich hinten mit "e" oder hartem Konsonanten schreiben, wird dabei eine klingendes "i" angehängt. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb sich die Cariocas noch fröhlicher anhören, als sie ohnehin schon sind. Sie versenden Whatsappi und surfen im Internetschi. Und wenn sie dafür keinen Laptoppi benutzen, sondern einen ganz herkömmlichen Computer, dann klicken sie nicht mit der Mouse, sondern mit der Mausi.

9. Die Nostalgie

Rio gehört zu den größten Städten der Welt und ist doch keine Weltstadt. Mit global vorherrschenden Kulturphänomenen wie der englischen Sprache oder der Hipsterkleiderordnung kennen sich hier nur ein paar Exoten aus. Selbst auf den schicken Boulevards von Copacabana und Ipanema gibt es Läden, die in jeden hessischen Achtzigerjahre-Kurort passen würden. Und es spricht ja auch wirklich nichts gegen Porzellan-Aschenbecher in Froschform. In Rio sind auch Teile der Werbewirtschaft noch in einem Status vor der Litfaßsäule stehen geblieben. Hier gibt es noch die Knoblauch-Bauchladenmänner, die wandernden Besenverkäufer und die mobilen Obststationen mit Megafon auf dem Autodach. Es ist ein Ort für Nostalgiker.

10. Der Geruch

Sicherlich, am Ufer der Guanabara-Bucht empfiehlt es sich, die Nase zuzuhalten. Abseits seiner inzwischen weltweit berüchtigten olympischen Segel-Kloake riecht Rio allerdings gar nicht mal so übel. Es duftet nach Gewächshaus. Märchenhafte Schlingpflanzen wuchern mitten in der Großstadt. Jeder Baum scheint von 30 Unterspezies bevölkert zu sein. Auf den Stromleitungen turnen die Äffchen, in der Kanalisation leben angeblich Krokodile, und selbst in der dreckigsten Segelbucht der Welt halten noch ein paar tapfere Delfine die Stellung.

Zu den größten realen Gefahren Rios gehört es, von überreifen Mangos, Maracujas oder den medizinballgroßen Jaca-Früchten erschlagen zu werden. Klar, ein wenig nervt es schon, dass ganze Zimmer verschimmeln, wenn man ein paar Tage lang nicht lüftet. Der durchaus beruhigende Gedanke aber ist: Wenn die Menschen eines Tages Rio de Janeiro verlassen sollten, dann wird es nicht lange dauern, bis der Dschungel diesen Ort zurückerobert hat.

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