BildbandHallo, ist da jemand?

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Die Prinzeninseln, vor Istanbul im Marmarameer gelegen, sind ein beliebtes Ausflugsziel. Kurz nach Sonnenaufgang sind sie jedoch noch verlassen.
Die Prinzeninseln, vor Istanbul im Marmarameer gelegen, sind ein beliebtes Ausflugsziel. Kurz nach Sonnenaufgang sind sie jedoch noch verlassen. (Foto: Anna Lehmann-Brauns)

Anna Lehmann-Brauns hat für ihren Bildband „Stages“ Orte fotografiert, die menschenleer sind. Sie setzt sie perfekt in Szene.

Rezension von Stefan Fischer

Wie lange schon war niemand mehr hier? Es kann wenige Minuten her sein oder einige Stunden. Aber vielleicht auch Monate, gar Jahre. Man sieht das diesen Orten nicht unbedingt an. Genauso spannend ist der Gedanke: Wann wird wieder jemand auftauchen – und wer? Im nächsten Augenblick, am nächsten Tag? Oder niemals mehr?

Die Fotografin Anna Lehmann-Brauns hat ihren Band „Stages“ betitelt. Auf manchen ihrer Aufnahmen sind tatsächlich (Theater-)Bühnen zu sehen, andere zeigen Orte, die in einem weiteren Sinn potenzielle Podien und Schauplätze sind. Was fehlt und aber eigentlich notwendig ist, damit ein Raum zu einer Bühne wird, sind Menschen. Lehmann-Brauns hat sie bewusst ausgespart.

Wer hat in dieser Kneipe gerade noch miteinander geflirtet, getrunken, Pläne gemacht?

Die einzigen Personen, die man auf ihren Fotografien sieht, sind selbst nur als Bildnisse präsent: Filmposter von „The Kid“ und „Pulp Fiction“ sind Teil ihrer Kompositionen, darauf Charlie Chaplin respektive John Travolta und Samuel L. Jackson, oder Porträts an den Wänden von James Dean und Marilyn Monroe, Wrestling-Artworks, ein Frauen-Akt. Es sind – weitgehend – öffentliche Orte, die Lehmann-Brauns in Szene setzt: Außer den Theater- und Showbühnen nebst Garderoben und Publikumssälen sind das Kneipen, Diners und Bars, Foyers und Hotelflure, auch Straßen und Plätze. Man kann sie als Reisender in aller Regel jederzeit aufsuchen oder ist sogar ohnehin unweigerlich dort. Die meisten der Bilder sind entstanden in Istanbul, Peking, San Francisco, Berlin und Leipzig sowie an einigen Orten in Italien.

Im Sommer ein sehr lauter, lebhafter Ort, im Winter ganz ruhig und einsam: ein Pool am Lago Maggiore.
Im Sommer ein sehr lauter, lebhafter Ort, im Winter ganz ruhig und einsam: ein Pool am Lago Maggiore. (Foto: Anna Lehmann-Brauns)

Eine gewisse Wehmut und Melancholie strahlen die Fotografien aus, vor allem dann, wenn man in ihnen nach dem Vergangenen, dem Verschwundenen sucht. Nach den Tragödien und Komödien, die sich an all diesen Orten abgespielt haben. Nach den diskreten Begegnungen und den lauten Konfrontationen. Nach all den Geschichten, die hier ihren Anfang genommen oder ihr Ende gefunden haben. Die Aufnahmen sind aber zugleich auch eine Einladung, sich anregen zu lassen. Sich auszumalen, was an diesen Schauplätzen passieren könnte, vielleicht sogar im nächsten Moment.

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Von Stefan Fischer

Es muss gar nicht einmal etwas Spektakuläres sein. Gerade wenn man als Reisender unterwegs ist, macht es Lust, die kleinen Schauspiele des Alltags zu beobachten. Dabei zugleich unwillkürlich selbst Teil der Inszenierung zu werden als fremder Beobachter. Die Leerstellen auf den Fotografien bieten sich bestens an für Assoziationen. Aufgrund der aktuellen Situation ist die Überlagerung der menschenleeren Orte mit den eigenen Bildern im Kopf besonders stark bei den Aufnahmen aus Istanbul. Dort protestieren viele Bewohner gerade gegen die Inhaftierung ihres Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu durch das Erdoğan-Regime.

Nur Barzahlung, Sitzgelegenheiten auch im Freien, Hunde erlaubt: Die Kneipe Frau Krause in Leipzig-Connewitz ist vielen Besuchern ein zweites Wohnzimmer.
Nur Barzahlung, Sitzgelegenheiten auch im Freien, Hunde erlaubt: Die Kneipe Frau Krause in Leipzig-Connewitz ist vielen Besuchern ein zweites Wohnzimmer. (Foto: Anna Lehmann-Brauns)

Bei Lehmann-Brauns schauen wir aus dem Fenster einer Fähre auf den Bosporus, auf dem nur ein einziges anderes Schiff unterwegs ist. Die Bänke in der Fähre: unbesetzt. Wir betreten geschlossene Restaurants auf den Prinzeninseln, fotografiert in der Nacht beziehungsweise den Morgenstunden. Einen Gebetsraum außerhalb der Gebetszeit. Blicken auf zwei nächtliche Straßenszenen, eine untertitelt mit „Rote Wand“. Der Gedanke an Blut liegt nahe, es ist jedoch eine friedliche Szenerie. Es braucht indessen nicht viel Fantasie, um sich an diesen Orten Menschenansammlungen vorzustellen, Demonstranten, Diskutanten, eine Stadt in Bewegung, ja Aufruhr. Zu beobachten auf diesen vielen kleinen Bühnen des Lebens.

Anna Lehmann-Brauns: Stages. Hartmann Books, Stuttgart 2025. 120 Seiten, 40 Euro.

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