Süddeutsche Zeitung

Reisebuch zu Autobahnen:Vollbremsung

Inmitten all der Raserei hält Michael Tewes inne: Für seinen Bildband "Auto Land Scape" fotografiert er deutsche Autobahnen - von unten, von oben und von der Seite.

Rezension von Stefan Fischer

Schon diese erste Fotografie enthält alles: Michael Tewes steht neben einer Autobahn - und doch mittendrin in der Szenerie. Man sieht beide Fahrspuren, jeweils an den seitlichen Rändern des Bildes. Die Leitplanken. Autos sieht man keine. Dafür Bäume, Sträucher, Büsche, eine räudige Wiese, harte Erde. All das zusammen: ein Mittelstreifen, so breit, dass man darauf in beide Fahrtrichtungen noch eine weitere Spur bauen könnte.

Das Bild zeigt einen Abschnitt der A 555, bei Raderthal, ganz im Westen Deutschlands. Das war einst die erste deutsche Autobahn, linksrheinisch, von Bonn nach Köln. Sie ist 1932 eingeweiht worden. Tewes porträtiert in seinem Band "Auto Land Scape" die deutschen Autobahnen als einen Organismus, der sich über das Land spannt wie das Myzel eines Pilzes, nur eben an der Oberfläche. Ein mäanderndes, sich verzweigendes Netzwerk, mal dezent in die Landschaft eingepasst, dann wieder sie überwuchernd, Brücken schlagend, Tunnel bohrend.

Der Journalist Claudius Seidl macht in seinem Vorwort die sehr treffende Beobachtung, dass Michael Tewes das Kunststück gelingt, die Interpretation der Fotografien den Betrachtern zu überlassen: Man könne die Bilder als Kritik an einer gigantischen Form der Naturunterwerfung lesen. Man dürfe sie aber auch lesen als "Bewunderung der Kraft, die in diesem Bauwerk steckt". Seidl fährt fort: "Michael Tewes sieht die Form, wo wir Fahrer immer nur die Strecke sehen." Weil er anhält, sich Zeit nimmt, weil er die Autobahn von außen betrachtet. Das sei nicht nur eine Frage der Perspektive, sondern auch der Geschwindigkeit.

Das irritiert einen natürlich erst einmal. Autobahnen, von der Seite fotografiert, von unten, auch von oben. Wenn man den Asphalt überhaupt sieht, ist er meistens leer. Nur auf wenigen Aufnahmen sind Fahrzeuge zu sehen, und wenn, sieht es oft so aus, als wären auch sie stehen geblieben.

Anhalten aber, "das ist als Stau oder Panne definiert", so Seidl, "allenfalls als kurze Pause". Der Band "Auto Land Scape" ist insofern eine Kuriosität. Weil er das Bekannte aus einer ungewöhnlichen Perspektive zeigt. Er kommt gerade zur rechten Zeit, da die Spritpreise steigen wie schon lange nicht mehr, sodass der Staat sich bemüßigt sieht, regulierend einzugreifen. Da zugleich die Menschen wie vor der Pandemie in den Süden aufbrechen, um dort endlich wieder einmal ihre Ferien zu verbringen. Da gerungen wird um eine Verkehrswende, um den Umstieg auf die Bahn, die Elektromobilität, um die Mobilität der Zukunft.

So ein Bildband regt natürlich an, um ein wenig zu philosophieren über die Autobahn als Ort und Unort zugleich, weil sie natürlich real existiert und immer mehr Fläche braucht, man andererseits möglichst schnell und weit weg möchte, sich also auf einem bestimmten Fleck Autobahn nie wirklich aufhält, sondern nur darüber hinwegfegt. Es geht außerdem bei Seidl und dann auch bei Thomas Zeller und Alexander Gall in deren Aufsatz um die Historie und die Aura der Autobahnen, speziell in Deutschland.

Das ist klug und bei Seidl auch gewitzt - und dennoch heben diese Texte ein wenig ab. Michael Tewes bringt das Thema mittels seiner Fotografien wieder ganz real zurück auf den Boden. Er erdet es. Auch auf jenen Bildern, auf denen die Autobahnen eine Leichtigkeit suggerieren, durch kühne Brückenkonstruktionen, durch einen eleganten Verlauf. Die Schwere, das Unverrückbare verschwinden nie aus seinen Bildern.

Tewes hat einen feinen Blick für Komik. Im Ruhrgebiet hat er eine Kuhherde aufgespürt, die unter einer Autobahnbrücke weidet. Bei Beihingen eine Gokartbahn direkt neben der A 81, auf dem Rastplatz Jagstal Ost einen Sattelschlepper mit Neuwagen - beides Bilder, in denen eine sirrende Ungeduld spürbar wird. Auf der Gokartbahn sind es die jungen Fahrer, die man hier vermutet, auf dem Sattelschlepper die fabrikneuen Wagen, die jeweils bereitstehen für den ersehnten Einsatz auf jenen Straßen, die einzig den Autos vorbehalten sind.

Von der A 70 gibt es eine Aufnahme bei Altenreuth, auf der gleich drei jeweils doppelspurige Fahrbahnen erst parallel zueinander verlaufen und sich dann voneinander abwenden. Alle drei verschwinden, ohne dass man konkret sehen würde, wo, in einer Hügellandschaft. Kein Fahrzeug ist zu sehen, es ist eines jener Bilder, die am deutlichsten spielen mit der Frage nach der Zweckmäßigkeit des Gezeigten. Natürlich ist jedem klar, wozu Autobahnen dienen. Sieht man jedoch Fotografien wie diese, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Autoland-Landschaft - so muss man den Buchtitel wohl lesen - mitunter etwas sehr Absurdes innewohnt: immer dann, wenn die Zweckmäßigkeit nicht offen zutage tritt.

Michael Tewes: Auto Land Scape. Verlag Hatje Cantz, Berlin 2022. 180 Seiten, 48 Euro.

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