Die Neue-Deutsche-Welle-Band Geier Sturzflug hat vor 30 Jahren gesungen: "Besuchen Sie Europa, so lange es noch steht". Ein satirischer Hit war das über das Wettrüsten im Kalten Krieg und den Hang des modernen Menschen zur Selbst- und Weltzerstörung. Eine Generation später werden nicht atomare Waffenarsenale als größte globale Bedrohung angesehen, sondern die Folgen des Klimawandels.
"Besuchen Sie die Pole, so lange es dort noch friert", das ist der neue zynische Schlachtruf. Aber so einfach ist das nicht mit einer Reise für jedermann an die Pole, nach Grönland, Spitzbergen oder Südgeorgien. Beinahe wie bei Flügen ins All braucht die Menschheit hierfür Abgesandte, die sie ins womöglich doch nicht ewige Eis schickt mit dem Auftrag, stellvertretend für alle die Eindrücke von dort zu sammeln.
Besonders geeignet als derlei Impulsgeber sind in diesem Fall Fotografen. Auf dem Markt der Reise-Bildbände dominieren demzufolge die Titel mit polaren Themen und Motiven. In den Geleitworten der Bücher ist stets Thema, wie massiv die Schönheit dieser Eis-Welten, die man im Folgenden jeweils betrachten könne, bedroht ist durch Gletscherschmelze und lange Tau-Perioden. Die Betrachter werden bei ihrer Angst-Lust gepackt: Wer sich jetzt kein Bild macht von Arktis und Antarktis, dem sei nicht zu helfen.
Der habe keinen Sinn für die Erhabenheit der Polarregionen und, weitaus gravierender, für ihre Fragilität. Was wie ein Gebirge oder Ozean für Jahrmillionen geschaffen scheint, ist tatsächlich akut in seiner Existenz bedroht. Folgerichtig heißt der Band der amerikanischen Fotografin Camille Seaman "Vom Ende der Ewigkeit" - da die Archaik, das vermeintlich Immerwährende der Polarwelten inzwischen in Frage stehen.
Von Alarmismus seitens der Buchbranche kann allerdings keine Rede sein: Die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen auf die nördlichsten und südlichsten Bereiche der Erde sind tatsächlich umfassend. Und keiner der Bildbände, der im aktuellen Winterprogramm der Verlage erscheint, ist ein billiger Schnellschuss, um an einer vorhandenen Nachfrage mitverdienen zu können. Camille Seaman beispielsweise hat seit 1999 in beiden Polarregionen fotografiert - und sich vor vier Jahren resigniert abgewendet, indem sie ihre Stellung als Schiffsfotografin gekündigt hat. Sie versteht sich explizit als Weltenretterin, zum Wohl der eigenen Tochter. Beinahe zwangsläufig muss so jemand an seinem eigenen Anspruch zerbrechen. Und doch ist "Vom Ende der Ewigkeit" kein fotografischer Nachruf, sondern eine vitale Dokumentation.
Auch die Finnin Tiina Itkonen bereist Grönland seit 20 Jahren. Sie interessiert sich in ihrem Band "Avannaa" vor allem dafür, wie sich Menschen auf dieser unwirtlichen Insel eingerichtet haben - ohne sie besonders oft zu zeigen, anders als in ihrem Buch "Inughuit" von 2004. Aber gerade diese minimalistischen Spuren menschlicher Existenz machen den Reiz auf Itkonens Aufnahmen aus, weil sie die Polarregionen sichtbar in unserer Realität verankern: Wir sind hier nicht in Fantasien unterwegs; unsere Existenz hängt zumindest mittelbar vom Zustand der Pole ab. Ein weiteres Ausdauerprojekt ist Thies Matzens und Kicki Ericsons Südgeorgien-Porträt "Antarktische Wildnis".
Reisebuch über Südgeorgien im Atlantik:Einsamste Ecke der Welt
"Der bloße Gedanke, hier ein Jahr zu leben, füllt die ganze Seele mit Grauen und Verzweiflung": Die unbewohnte Insel Südgeorgien im eisigen Atlantik ist nicht das typische Reiseziel. Die Fotografen Thies Matzens und Kicki Ericson hielten es über zwei Jahre dort aus.
Eine dezidiert künstlerische Perspektive nimmt Stefan Hunstein ("Im Eis") ebenso ein wie Sven Nieder und Nomi Baumgartl: Sie versammeln in "Stella Polaris* Ulloriarsuaq" Langzeitbelichtungen der eisigen Landschaft Grönlands, aufgenommen nächtens oder in der Dämmerung, während Einheimische sie anstrahlen. Licht und Eis, das drücken die Bilder aus, sind ewig. Die Fotografien beharren auf einer "Schönheit trotz allem" - trotz aller Umweltverschmutzung und der drohenden Klimakatastrophe. Sie lenken den Blick sichtbar auf das zu Sehende, zu Bestaunende - das im Grunde Offensichtliche.
Reisebildband "Im Eis":Fast alles außer Weiß
Unschuldiges weißes Eis unter blauem Himmel bei strahlendem Sonnenschein - das gibt es entgegen dem Klischee selten in der Arktis. Der Fotograf und Schauspieler Stefan Hunstein zeigt in seinem Bildband "Im Eis" ganz andere Eindrücke.
Dietmar Baum und Tini Papamichalis bieten in "Art Arktis" einen dokumentarischen Gegenentwurf, auch wenn sie die Natur darin zum Kunstwerk erheben. Rechnet man die Expeditionsberichte "Im Schatten des Pols" von Arved Fuchs und "Durchquerung der Antarktis" von George Lowe und Huw Lewis-Jones hinzu (beide bei Delius Klasing), ergibt sich ein vielgestaltiges, aufschlussreiches Bild. Das uns verändern wird, schreibt Elizabeth Sawin im Vorwort für Camille Seaman - "wenn wir es zulassen".
Dietmar Baum, Tini Papamichalis: Art Arktis. teNeues Verlag, Kempen 2014. 208 Seiten, 79,90 Euro.
Nomi Baumgartl, Sven Nieder, Yatri N. Niehaus, Laali Lyberth: Stella Polaris* Ulloriarsuaq. Das leuchtende Gedächtnis der Erde. Eifelbildverlag, Daun 2014. 184 Seiten, 69 Euro.
Tiina Itkonen: Avannaa. Kehrer Verlag, Heidelberg 2014. 104 Seiten, 39,90 Euro.
Camille Seaman: Vom Ende der Ewigkeit. Eine Reise durch bedrohte Polarwelten. Prestel Verlag, München, London, New York 2015. 160 Seiten, 29,95 Euro.