Süddeutsche Zeitung

Besuch in Neapel:Wie Phönix aus dem Müll

Irgendwo unter all dem Unrat müsste eigentlich das schöne Neapel liegen. Doch die Stadt macht es Gästen nicht leicht. Eine Entdeckungsreise.

Sabine Zaplin

Wie gefällt Ihnen Neapel?", erkundigt sich der junge Mann, ehe er den Weg zur nächsten U-Bahnstation erklärt. Es sei nicht zu finden, zu viel Müll, ist die Antwort.

Der junge Mann zuckt mit den Achseln und geht mit raschem Schritt voran zur U-Bahnstation. "Nehmen Sie den Zug in Richtung Gianturco", sagt er knapp, "es sind genau vier Stationen bis Garibaldi, wo die Circumvesuviana abfährt, hinaus aus der Stadt". Dann dreht er sich um und ist fort.

Ein netter Tag in Neapel sollte es werden: seine Sehenswürdigkeiten erkunden, seinen Straßencharme, ein bisschen bummeln und nichts als Tourist sein.

Eine "Kulturstadt mit Niveau", stand im Reiseführer. Den Stadtoberhäuptern sei es gelungen, "Neapel wieder zu einem interessanten Reiseziel und zu einer lebenswerten Stadt zu machen", versprach "Polyglott", und "Marco Polo" schwärmte von "ausgesuchter Freundlichkeit, herzlichem Lachen, lauschigen Plätzen", von "schwungvoller Pracht und tief verwurzeltem Kulturbewusstsein".

Natürlich ist dem Touristen neben der Reiseführerlyrik auch die Berichterstattung über das neapolitanische Müllproblem bekannt und es somit auch nicht überraschend, dass den einst prachtvollen Corso Garibaldi mannshohe Berge aus Müllsäcken flankieren.

Bröckelnde Fassaden, heruntergekommenes Viertel - dass man in der Bahnhofsgegend angelangt ist, das zeigt auch der Stadtplan. Bis zur Spaccanapoli scheint es jedoch nicht weit zu sein. Diese Straße, die eigentlich Via B. Croce heißt und in ihrem Verlauf den Namen immer wieder wechselt, durchschneidet die Altstadt und liegt noch heute genau dort, wo bereits das griechisch-römische Neapolis eine Hauptstraße durchzogen hatte.

Rechts und links davon würden die Altstadtgassen wohl bieten, was in den Bildbänden zu Neapel in kunstvollen Schwarzweißaufnahmen so pittoresk wirkt: schmale Sträßlein, in denen Wäscheleinen zwischen den Häuserfronten gespannt sind, darunter lächelnde zahnlose Alte und Jungs in weißen T-Shirts auf Motorrollern, einen Pizzakarton auf dem Gepäckträger. Was sucht der Tourist anderes als das Klischee?

Der Weg durch schmale Gassen ist endlos, doch den Charme des Pittoresken verbirgt Neapels centro storico hartnäckig hinter lärmender Kaltschnäuzigkeit.

Lesen Sie weiter, warum man besonders vorsichtig sein sollte, wenn man in Neapel an einer Boutique vorbeigeht.

Grinsend sieht ein alter Mann zu, wie die Touristen ihren Stadtplan zu bändigen suchen und macht sich gleich davon, als sie sich ihm nähern. Ist das jetzt nun die Altstadt? Der Versuch, jenseits der Via Duomo in einer der muffigen Gassen die Straßenseite zu wechseln, kommt bei den Stoßstange an Stoßstange parkenden Autos einer Stadtrallye unter erschwerten Bedingungen gleich.

Die angelaufene Schaufensterscheibe einer Boutique ermöglicht halbwegs den Blick auf ein paar schicke Teile der aktuellen Armani-Kollektion. Während man nach Preisschildchen Ausschau hält, öffnet eine elegant gekleidete Dame die Ladentür und kippt den Inhalt eines übervollen Mülleimers auf die Straße.

In diesem Moment überfallen einen erste Zweifel am vermeintlich tief verwurzelten Kulturbewusstsein der Neapolitaner. Am Boden zwischen Müllbergen hat ein Straßenhändler seinen Fisch ausgebreitet, was den Entschluss, einen Fastentag einzulegen, nur festigt.

Bald ist der Stadtplan zum wichtigsten Überlebensmittel geworden in dieser hinweisschilderfreien Stadt. Zwischen Fiats und Fäkalien hindurch weist er den Weg zu den unterirdischen Tunneln, Zisternen und Vorratskanälen, "Napoli Sotteranea", das unterirdische Neapel also, das schon die Griechen und Römer angelegt hatten.

Vespageschwader und Motorrollerhorden

Doch beinahe bezahlt man sein historisches Interesse mit dem Leben, denn genau in dem Moment, als man sich zwischen zwei parkenden Autos mühsam hindurchgezwängt hat, donnert ein Vespageschwader in Höchstgeschwindigkeit vorbei und lässt einen in einer Abgaswolke zurück.

Nachdem man sich vergewissert, dass keine weiteren Hundertschaften folgen, scheint mit einem Hechtsprung der Eingang zu Neapels Unterwelt erreicht zu sein. "Chiuso", steht auf einem Schild davor. "Geöffnet 12 bis 16 Uhr", steht im Reiseführer, und nach einem Schild mit den genaueren Öffnungszeiten sucht man vergeblich.

Doch der Blick in den Reiseführer verspricht Ablenkung. Irgendwo hier muss die schönste gotische Kirche der Stadt sein, San Lorenzo Maggiore. Und richtig - gegenüber steht eine Kirche, deren Eingang von parkenden Autos verbarrikadiert ist.

Einzig der direkte Weg über die Kühlerhauben würde hier zum Ziel führen, doch wie zum Beweis der Unmöglichkeit dieses Vorhabens knattern vier Motorroller vorbei und tränken dies "lauschige Plätzchen" mit Abgasen.

Charmanter wird es hier in der Altstadt ohnehin nicht mehr, da liegt der Weg zur Station der Funicolare, der Zugseilbahn, die auf den Vomero hinaufführt, näher.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, dass das Menschenrecht auf caffè in Neapel offenbar nicht mehr gilt.

Oben angekommen, vor den dampfdruckgereinigten Mauern der Cartosa di San Martino, jenem säkularisierten Kloster, in dem das Museo Nazionale di San Martino untergebracht ist, ist es zum ersten Mal an diesem Tag möglich, tief Luft zu holen. Sinnbildlicher ist die Differenz zwischen oben und unten in einer Stadt kaum erfahrbar als hier, wo hinter Mauern aus bestem Stein tiefgrüne Palmen auf gepflegte Villen schließen lassen, während der Blick auf die dampfige, wie im Fieberschlaf bebende Stadt fällt.

Es muss jedoch auch dort unten irgendetwas Schönes geben. Was hatte der Reiseführer noch im Angebot? Caffè Gambrinus - das Foto der herzlich lachenden Männer am Tresen unter Goldstuck und Kristalllüster macht sofort Appetit auf einen gepflegten Cappuccino.

Der caffè, steht in den Büchern, sei in Neapel ein Menschenrecht, nicht selten bezahlten die Neapolitaner zwei im voraus und tränken dann nur einen - der zweite ist ein Geschenk an jemanden, dem das nötige Kleingeld für den Kaffeegenuss fehlt. Einen caffè sospeso bekommt dieser Unbekannte dann.

Die nächste Seilbahn hinab steht schon bereit und unten geht es ins Kaffeehaus Gambrinus, im 19. Jahrhundert von einem Wiener Architekten erbaut. Inmitten der verfaulenden Palazzi ringsum wirkt es wie eine Theaterkulisse.

Die Neapolitaner haben die Waffen gestreckt

Ein livrierter Kellner, der auch noch aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheint, weist fürsorglich am Tresen vorbei in den hinteren Raum, wo unter der reich verzierten Kuppel ausschließlich deutschsprachige Gäste vor ihrem caffè sitzen. Gerade will der blasierte Kellner die Rechnung bringen, als ein nachlässig gekleideter Mann den Kuppelraum betritt. Diskret wird er vom Livrierten zurückgedrängt und wortlos aus dem Kaffeehaus geschoben. Wie verträgt sich das mit dem Menschenrecht auf caffè? Zeit also, zu gehen.

Draußen vor dem Palazzo Reale kicken ein paar junge Männer eine zerbeulte Coladose über den Platz. Für einen Moment wird das Spiel rasanter, doch dann geben sie auf und lassen sich, wo sie gerade stehen, auf dem Asphaltboden nieder. Sie scheinen hier alle längst die Waffen gestreckt zu haben.

Eigentlich könnte man jetzt bummeln gehen, die Via Toledo mit ihren zahlreichen Shops der italienischen Modeketten hinunter, vorbei an den Ständen mit gefälschten Fußballtrikots. Die klassizistische Galleria Umberto I, eine Einkaufspassage aus dem 19.Jahrhundert, ist wegen Renovierung geschlossen. Rechts zweigen Gassen ab mit den bekannten, zwischen den Häuserfronten aufgespannten Wäscheleinen, an denen die halbwegs weiße Wäsche der Neapolitaner wie improvisierte Friedensfahnen flattert.

Später auf dem Heimweg fällt der Blick auf den grünen Vesuv, der hinter der Stadt wie eine Riesenkröte hockt. Wie schön ist das aus der Asche gegrabene Pompeji heute.

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Quelle:
SZ vom 19.06.2008/lpr
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