Reisebücher:Ruhelos durch Berlin

Lesezeit: 4 Min.

Ein bisschen schäbig, dafür Berliner Charme: ein Bild aus dem Bildband "Vanishing Berlin. In der Zwischenzeit." des Fotografen Alexander Steffen. (Foto: Alexander Steffen)

Die Hauptstadt ist immer auch stolz auf ihre Schäbigkeit. Vier Bücher rücken diese nun ins rechte Licht.

Rezension von Stefan Fischer

Berlin ist eine anstrengende Stadt. Dafür wird sie geliebt. Weil sie ständig in Bewegung ist, immer unfertig, immer im Aufbruch begriffen. Und nie saturiert. Wenig hat Bestand in der Hauptstadt, das zeigen vier aktuelle Berlin-Bände besonders anschaulich - am Beispiel zweier Prachtboulevards, eines zentralen Platzes und der vielen Brachen, die sich immer wieder auftun im urbanen Raum. Vielerorts präsentiert Berlin sich als eine ruppige Stadtlandschaft mit vielen Wunden. So auch auf den eigenwilligen Fotografien und in den spannenden Geschichten dieser Bücher.

Das KaDeWe und das Café Einstein sind nicht weit. In der Kurfürstenstraße gibt es aber auch solche Brachen. (Foto: Alexander Steffen)

Boulevard West

Würde stimmen, was da steht, wäre die These von Rainer Haubrich trotzdem zu halten: Bis heute zehre der Kurfürstendamm in Berlin vom Ruhm, so der Autor, den der Boulevard sich zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Machtergreifung der Nationalsozialisten erworben habe, und zwar "durch seine eigentümliche Mischung aus großbürgerlichen Wohnungen, Luxusläden, Terrassencafés, Restaurants, Anwalts- und Arztpraxen, Max-Reinhardt-Theatern und Uraufführungskinos". Innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne also. Haubrich bemisst sie auf 24 Jahre, tatsächlich waren es jedoch nur 14 Jahre, von 1919 bis 1933.

In dieser Phase hat der Boulevard tief im Westen Berlins der Prachtstraße Unter den Linden in Mitte den Rang als erste Adresse der Stadt abgelaufen und Weltgeltung erlangt. Haubrich kapriziert sich in seinem Band "Der Kurfürstendamm" aber nicht auf diese ruhmreiche und deshalb schon oft geschilderte Episode. Er geht vielmehr zurück zu den Anfängen der Straße, die ihren Namen trägt, weil ein sogenannter hölzerner Knüppeldamm den Weg befestigte, den die Kurfürsten durchs Sumpfland hinaus zu ihrem Jagdschloss Grunewald nahmen. Andererseits folgt Haubrich der Geschichte bis in die Gegenwart. Er schildert also, wie der Kurfürstendamm werden konnte, was er zur Glanzzeit war. Und wie er sich danach in der erst kriegszerstörten, dann geteilten, schließlich wiedervereinigten Stadt immer wieder gehäutet hat auf der Suche nach einer neuen Rolle und einem neuen Publikum. Das alte - Linksintellektuelle, Kosmopoliten, progressive Künstler - hatten die Nazis vertrieben, nicht selten ermordet.

Es stand, Ende der 1970er-Jahre, besonders schlimm um den Kurfürstendamm: Souvenirshops und Schnellrestaurants, Peep-Shows und Pornokinos, dazu die Drogenszene am Bahnhof Zoo. Davon hat er sich teilweise erholt. Aber nicht von seiner Rolle als Maskottchen des alten bundesrepublikanischen Westens. Das hippe Berlin ist woanders. Aber das kann man am Kurfürstendamm ja auch schätzen.

Rainer Haubrich : Der Kurfürstendamm. Eine kurze Geschichte des Berliner Boulevards. Insel Verlag, Berlin 2021. 144 Seiten, 15 Euro.

Boulevard Ost

Die Neubauten an der damaligen Stalinallee in den 1950er-Jahren haben großzügig bemessene Eingangshallen. (Foto: Thorsten Klapsch)

Für die Karl-Marx- und in ihrer Verlängerung gen Osten die Frankfurter Allee waren indessen die 1990er-Jahre die schwierigste Zeit. Es waren die Jahre einer Massenflucht. Mitte der 1950er-Jahre wurden hier - damals hieß die Ausfallstraße Stalinallee - repräsentative und das Stadtbild prägende Wohnhäuser errichtet, die sogenannten Stalinbauten. Unmittelbar nach der Wende wurde es unattraktiv, dort zu leben, viele der Wohnungen standen leer. Längst sind sie privatisiert und auf dem umkämpften Mietmarkt Berlins inzwischen wieder sehr begehrt.

Der Fotograf Thorsten Klapsch, der selbst in einem dieser Häuser lebt, und die Autorin Michaela Nowotnick porträtieren in ihrem Buch "Mein Stalinbau" diese Ensembles, indem sie sich von Bewohnern deren Geschichten erzählen lassen und dazu Fotografien aus den Wohnungen zeigen. Teilweise leben noch Erstbezieher in der Karl-Marx-Allee, darunter Armin Dürr, der als sogenannter Aufbauhelfer den Schutt der zerbombten früheren Bebauung wegräumen half und dann auch beim Bau der bis heute markanten Häuser. Unter diesen Aufbauhelfern wurden damals etliche der Wohnungen verlost.

Achim und Christa Dürr leben seit beinahe siebzig Jahren in einer der sogenannten Stalinbauten an der Karl-Marx-Allee. (Foto: Thorsten Klapsch)

Das Buch ist eine spannende Milieugeschichte und führt die Leserinnen und Leser ein in eine Welt, von der sie als Berlin-Besucher nur die Fassaden zu sehen bekommen, die architektonische Außenhülle. Ein bisschen etwas spiegelt sich noch wider vom egalitären Anspruch der DDR: Handwerker leben neben Hochschulprofessoren, ein im Sozialismus selbständiger Friseur nicht weit weg vom letzten Botschafter der DDR in Indien. Sehr sanft, aber eben doch spürbar wird die Bewohnerschaft internationaler. Und weil die Mieten immer noch vergleichsweise günstig sind, sind etliche Menschen hergezogen, die in der Kreativbranche arbeiten. Sie fürchten ebenso wie die betagten Bewohner die nächste Gentrifizierungswelle. Dabei seien sie es doch, die den Geist der Stadt ausmachen würden, sagt Maja Planic, eine selbständige Modedesignerin, die mit ihrem Partner und den beiden Kindern in einer der Zweiraumwohnungen lebt.

Thorsten Klapsch, Michaela Nowotnick : Mein Stalinbau. Eine Berliner Straße und die Geschichten ihrer Bewohner. Bebra Verlag, Berlin 2021. 208 Seiten, 20 Euro.

Der große Transit

Im Zuge einer der vielen Umgestaltungen des Alexanderplatzes hat Walter Womacka Ende der 1960er-Jahre den Brunnen der Völkerfreundschaft entworfen. (Foto: Ingrid Feix)

Ihren Anfang nimmt die Karl-Marx-Allee am Alexanderplatz. Den porträtiert wiederum die russischstämmige Autorin Nellja Veremej. Aufgewachsen in St. Petersburg, kam sie im Wendesommer, kurz vor dem Mauerfall, als Mittzwanzigerin erstmals in die Stadt, seit 1992 lebt sie in Berlin. In "Der Alexanderplatz" beschreibt sie diesen wegen der vielen Passanten als "größtes Transitareal der Stadt". Als einen Ort der Unruhe, der Wende, des steten Umbaus. Ein Platz, dessen Abmessungen immer wieder verändert worden sind, dessen Bauten ihn nicht wirklich begrenzen. Der sich zwischen Mauerbau und -fall zum Stadtzentrum Ostberlins aufschwang und dabei eine merkwürdige Zwitterrolle eingenommen habe, so Veremej: Auf Besucher aus der DDR-Provinz habe er eine Faszination ausgeübt mit seinen "futuristischen Fassaden und urbanen Freuden". Ostberliner, die die westlichen Stadtbezirke kannten aus den Jahren, als sie noch dorthin konnten, hätten in ihm hingegen nur einen Abklatsch eben des Westteils gesehen. Ein bisschen erging es dem Alexanderplatz da wie dem Kurfürstendamm, den in den Jahren der Teilung auch Touristen aus dem Rest Deutschlands oftmals spannender fanden als die Bewohner Westberlins.

Veremej geht hart ins Gericht mit dem Alexanderplatz, mit seinen schäbigen Vergnügungen, mit seiner Ungemütlichkeit. Und kann doch nicht von ihm lassen. Es ist der Ort, an dem auch sie damals angekommen ist als Fremde, der sie verschluckt und wieder ausgeworfen hat. Der viel erzählt über diese Stadt.

Nellja Veremej : Der Alexanderplatz. Bebra Verlag, Berlin 2021. 144 Seiten, 12 Euro.

Tattoos

Auf der linken Brandschutzmauer war ursprünglich ein Mural des Street-Art-Künstlers BLU. 2014 hat er es übermalen lassen aus Protest gegen die Vereinnahmung des Kunstwerks durch die Stadt. (Foto: Alexander Steffen)

Der Fotograf Alexander Steffen macht seine Beobachtungen nicht an einem einzelnen Platz oder einem konkreten Straßenzug fest. Er stromert durch das gesamte Stadtgebiet, auf der Suche nach Orten, an denen etwas zu Ende gegangen ist und noch nichts Neues begonnen hat: geschlossene Geschäfte, Brachen, leerstehende Industriegebäude. Bereits 2016 hat er einen Band mit dem Titel "Vanishing Berlin" vorgelegt. Seither sind, so schreibt Steffen im Nachfolgeband "Vanishing Berlin. In der Zwischenzeit", 60 Prozent der damals gezeigten Objekte verschwunden.

Steffen stellt Berlin auf seinen Fotografien aus als tätowierte Stadt. Nicht der Verfall von Bausubstanz steht im Zentrum, sondern der Mix aus Graffiti, Murals und alten Ladenschildern auf den bröckelnden Fassaden. Zweimal unterbrechen Cut-up-Texte den Fluss der Bilder; Steffen zitiert Abfolgen des Geschriebenen, was er sieht bei Spaziergängen durch diese Zwischenwelten: "... Jesus ist Berliner Snafu Telefunken Saba Grammophon Bestattungen Kluth Glorias Dream Beauty Shop 666 Sex Film Center Früher war hier mehr los Club King George Blumen Lehmann ..." Ein Durch- und Nebeneinander unterschiedlicher zeitlicher Schichten. Irgendwann wird sich eine neue darüberlegen. Die Dinge werden schnell historisch in Berlin.

Alexander Steffen : Vanishing Berlin. In der Zwischenzeit. Edition Braus, Berlin 2021. 184 Seiten, 29,90 Euro.

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