Die Schloßstraße, eine geschäftige Einkaufstraße im Berliner Westen. Läden, Restaurants, Kinos, ein Theater, das pure Großstadtleben. Noch geschäftiger ging es allerdings unter der Schloßstraße zu. Denn dort gruben Bankräuber Monate lang einen Tunnel, 45 Meter lang. Sie bohrten sich von einem Parkplatz aus durch den Untergrund und transportierten nachts tonnenweise Sand ab, bis sie im Januar 2013 den Tresorraum einer Volksbank-Filiale erreichten und alle Schließfächer leer räumten. Sie verschwanden auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren, bis heute fehlt von ihnen jede Spur. Nur der Eingang zum Tunnel ist geblieben: ein Holzgerüst, sauber mit Winkeln verschraubt. Man kann ihn heute besichtigen. Nicht dort, wo er einst war, allerdings. Sondern in einem Museum in einer verwinkelten alten Bunkeranlage, ebenfalls tief unter der Erde.
Berlin ist eine Stadt, in der man an jeder Ecke auf irgendwelche Sehenswürdigkeiten stößt, jedes Jahr kommen deswegen Millionen Touristen. Weniger bekannt ist, wie viel Sehenswertes sich unter der Stadt befindet. Schächte und Tunnel, Operationssäle aus dem Krieg, das Gewölbe der Berliner Kanalisation oder Tresorräume, die zu Clubs wurden. Der erste U-Bahn-Tunnel Deutschlands ist hier, ausgehoben Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Londoner Tube. Und der letzte Bunker seiner Art, gebaut für den Fall eines Atomkriegs, mit Küchen, Schutzausrüstung, dicht an dicht gestellten Stockbetten und speziellen Schleusen, damit sich die 3000 Menschen, die hier Platz finden sollten, nicht überrennen. Und eben der Schacht der Tunnelräuber, die Polizei hat ihn dem Museum geschenkt.
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Das alles ist ziemlich überraschend. Berlin ist schließlich auf Sand gebaut und dazu sehr feucht, seinen Namen verdankt die Stadt dem slawischen Ausdruck für "Ort im Sumpf". Andererseits macht die Weltgeschichte nicht an der Oberfläche halt, und so muss man sich Berlin vorstellen wie das Meer: Oben ist sehr viel los, und in der Tiefe liegen die unglaublichsten Dinge.
Zumindest sind diese Dinge nicht mehr verborgen - dank eines rührigen Berliner Vereins, der seit 20 Jahren das unterirdische Berlin erschließt und für Besuchergruppen zugänglich macht, "Berliner Unterwelten" heißt er. Und so kann man inzwischen an jedem Wochenende irgendwo in der Stadt in die Tiefe gehen und sehen, was es dort gibt. Und wo man am Ende wieder herauskommt.
Im Bunker am Volkspark Humboldthain etwa. Oben ist eine Durchgangsstraße mit Einkaufszentren und einem graffitiübersäten Gebäude, auf dem "Haus der Volksbildung" steht. Unten dann weit verzweigte Gänge, Treppen, Eisentüren, Gitter und Übergänge, an denen die U-Bahn vorbeirauscht. Dietmar Arnold, der Tourguide, bittet erst einmal alle, sich dicht hinter ihm zu halten. Zu groß ist die Gefahr, in diesem Labyrinth verloren zu gehen. An den Wänden sind noch die phosphoreszierenden Buchstaben zu sehen, die einst angebracht wurden, damit man während eines Stromausfalls nach draußen findet, hier war einer von 1000 Berliner Kriegsbunkern. Arnold lotst einen treppauf, treppab, vorbei an alten Schildern, Notbetten und Räumen mit Vitrinen. Dazwischen erzählt er über die Großstadt unter der Großstadt.
"Nase zu und durch die Scheiße in die Freiheit": So hieß es anfangs in der DDR
Früher verlief hier eines der größten Rohrpostnetze der Welt, und während nach dem Zweiten Weltkrieg oberirdisch die Stadt in zwei Teile zerfiel, war das unterirdische Berlin noch viele Jahre lang vereint, durch das U-Bahn-Netz oder die Kanalisation. Die nutzten nach dem Mauerbau dann auch viele, um aus der DDR zu flüchten. Arnold bleibt vor einem massiven Gullydeckel stehen, einem der vielen Ausstellungsstücke, die der Verein über die Jahre zusammengetragen oder von Zeitzeugen als Spende bekommen hat. Der Deckel lag im Osten der Stadt und wurde nachts angehoben, damit Familien in die Kanalisation hinabsteigen konnten. Viele Kanäle waren anfangs nur zur Hälfte vergittert, "also Augen und Nase zu und durch die Scheiße in die Freiheit", sagt Arnold. Danach gingen noch mal sogenannte Deckelmänner an die Einstiegsstelle und schlossen den Gullydeckel, damit keiner Verdacht schöpfte. Arnold zeigt auf Metallgestelle, aus denen riesige Stacheln ragen, der "Stalin-Rasen". Dieser wurde vom DDR-Regime in den Berliner U-Bahn-Schächten ausgelegt, um die Leute an der Flucht zu hindern. Sie gelang trotzdem vielen, vor allem Grenzsoldaten rannten auf diese Weise in den Westen. In anderen Städten steht der Untergrund für Kriminalität und zwielichtige Machenschaften, man denke nur an den "Dritten Mann" in der Wiener Kanalisation. In Berlin war die Unterwelt immer auch das Tor zur Freiheit.
Eine Tür öffnet nun auch Tourguide Dietmar Arnold am Ende eines düsteren Ganges. Davor stehen plötzlich Menschenmassen - man ist auf einem Bahnsteig der U-Bahn gelandet. Nach ein paar Stationen Fahrt taucht man an der Bernauer Straße wieder auf, und von dort geht es in ein altes Brauereigewölbe. Ziegelwände, gestampfter Boden und überall Erdhaufen und Förderwägelchen, man könnte denken, man ist in einem Stollen gelandet. Ist man in gewisser Weise auch, denn in diesem Teil des "Unterwelten"-Museums geht es um die Arbeit, die Menschen unter Tage geleistet haben, um anderen die Flucht zu ermöglichen. Etwa 70 Fluchttunnel wurden in Berlin gegraben, meistens von einem Keller im Westen aus und dann unter der Berliner Mauer hindurch in den Osten. Dort warteten, ebenfalls in einem Keller, Freunde und Familie der Tunnelbauer und krochen in die Freiheit, manchmal ein paar Dutzend Leute oder eine ganze Hochzeitsgesellschaft, manchmal nur einige wenige. Etliche Tunnelprojekte wurden verraten oder aufgespürt, die Tunnelgräber von der Stasi erschossen.
Immer wieder, erzählt Arnold, würden sich ältere Männer bei ihm melden und sagen, sie hätten ebenfalls an einem Tunnel mitgebaut. Viele Schächte existieren bis heute irgendwo, erst im vergangenen Jahr wurde ein Tunnel bei Bauarbeiten freigelegt. Klaus Köppen hatte ihn gegraben, um seine Freundin und sein Kind in den Westen zu holen, 145 Meter lang, sechs Meter unter der Oberfläche, zusammen mit Freunden buddelte er Tag und Nacht. Sogar das Holz, mit dem Köppen den Schacht abgestützt hatte, war noch intakt, die Balken lehnen nun an der Wand des Museums, direkt neben einem nachgebauten Fluchttunnel. Man sieht den zusammengezimmerten Einstieg, die Beleuchtung und die Rohre, durch die Sauerstoff in den Tunnel geleitet wurde, der Schacht ähnelt von der Bauweise dem Tunnel aus dem Tresorraum der Volksbank. Nur, dass es den Berliner Tunnelbauern von damals um eines ganz sicher nicht ging: persönliche Bereicherung.