Bergtouren rund um Peking:Immer dem roten Fähnchen nach

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Wandern? Ist für Chinesen eher schwer vorstellbar. Dabei gibt es sogar im Umland von Peking lohnenswerte Wege - und etwas bessere Luft.

Von Christoph Giesen

Chinas Hauptstadt, dieser Millionenmoloch, diese Metropole des Smogs und des Verkehrsinfarkts, kann auch ganz anders sein: ländlich, unberührt und unfassbar schön. In diesem anderen Peking begegnet man Bauern, die ihre Ernte an steilen Berghängen einholen, die ihre Sensen schärfen und ein wenig verdattert schauen, wenn Menschen mit Funktionskleidung und Wanderstöcken an ihnen vorbeiziehen. Wer das andere Peking sehen möchte, muss sich früh morgens an der U-Bahn-Station Liangmaqiao im Diplomatenviertel einfinden. Dort wartet dann ein Bus des Touren-Anbieters Beijing Hikers, der ins Umland fährt. Peking bezeichnet nicht nur das Stadtgebiet: Der Regierungsbezirk Peking umfasst eine Fläche von beinahe 17 000 Quadratkilometer - das ist in etwa so groß wie Thüringen.

An diesem Morgen geht es in die Westberge. 27 Wanderer sind gekommen. Hayden Opie, ein drahtiger Neuseeländer, leitet den Ausflug. Für umgerechnet etwa 50 Euro bekommt man die Busfahrt, einen Müsliriegel, eine Banane und so viel Wasser wie man tragen kann. Unterwegs teilt Hayden eine selbstgemalte Wanderkarte aus - offizielles Material gibt es nicht.

Wandern an sich ist nicht einmal ansatzweise populär in China. Es gibt ein paar Verstreute, die sich in Onlineforen austauschen, GPS-Daten hochladen und sich zu Fahrgemeinschaften verabreden. Gedruckte Wanderführer, einen Alpenverein oder gar markierte Wege, all das sucht man in China vergeblich. Zum Glück, muss man fast sagen.

Denn: Sobald in China ein Ort touristisch erschlossen wird, ist es mit der Idylle vorbei. Dann werden Seilbahnen errichtet, Stufen in Felsen geschlagen und endlose Treppen gebaut, auf denen man dann auf bis zu 2000 Meter hohe Gipfel steigen kann. Oben haben unzählige Läden geöffnet, es werden T-Shirts verkauft, Limonade und fettige Würstchen. Ja selbst Sauerstoffflaschen werden angeboten, für Städter, denen man weismacht, dass die Luft hier sehr dünn ist.

Als Krieger verkleidete Darsteller patrouillieren auf der Chinesischen Mauer im Fort von Jiayuguan. Sonst spazieren hier die Besucher. (Foto: David Gray/Reuters)

Auf unserer Tour sieht das anders aus. Nach zwei Stunden Busfahrt ist der Ausgangspunkt erreicht: eine Bergstraße. Das Handy zeigt keinen Empfang mehr an. Haydens Kollege Jake geht voraus. Alle 50 Meter hängt er einen roten Wimpel mit dem Logo von Beijing Hikers an einen Ast oder befestigt ihn an einem Mauervorsprung. Hayden läuft am Ende der Gruppe und sammelt die Fähnchen wieder ein. Gleich zu Beginn geht es steil bergauf, hoch bis auf 1200 Meter.

Nach etwa einer Stunde ist die Große Mauer erreicht. Jenes Bollwerk, das sich Tausende Kilometer durch den chinesischen Norden zieht, über Jahrhunderte errichtet, um China vor Angriffen nomadischer Reitervölker zu schützen. Treppenstufe um Treppenstufe müssen die Touristen nun nehmen. Hier ist die Mauer noch unberührt, nicht renoviert wie andernorts. Ein steiler Pfad, bedeckt mit Geröll. Man muss aufpassen, dass man nicht abstürzt. Kilometerlang windet sich die Mauer durchs Gebirge, erklimmt Anhöhen und fällt dann wieder steil ab ins Tal. Blickt man nach Westen, sieht man den Lingshan, den höchsten Berg in Peking, 2303 Meter, auf dem Gipfel liegt bereits Schnee.

Obwohl 27 Wanderer gemeinsam unterwegs sind, kann jeder sein eigenes Tempo gehen, die Flaggen verhindern, dass man vom Weg abkommt. Wer gerne alleine ist, wandert alleine, wer sich lieber unterhält, findet interessante Gesprächspartner. Da ist der ehemalige Forschungschef eines großen Handyherstellers. Seit zehn Jahren lebt er in Peking. Inzwischen arbeitet er im Vorstand eines chinesischen Konzerns. Oder der Architekt aus Dänemark, der Wolkenkratzer in China hochzieht. Oder Frederik. Mit ihm kann man allerdings nur im Bus sprechen. Er rennt in seiner Freizeit Ultramarathons. Mal auf den Kilimandscharo, dann wieder durch irgendeine Wüste. Er fährt fast jedes Wochenende mit Beijing Hikers raus in die Berge. Er kennt die meisten Strecken und läuft sein ganz eigenes Pensum. 30 Kilometer und mehr. Und das bei jedem Wetter. Auch bei Smog? Auch bei Smog. "In den Bergen ist die Luftverschmutzung oft nicht so schlimm wie in der Stadt", sagt Hayden. Dennoch könne man eine Wanderung auch kurzfristig absagen. "Einen Tag vorher genügt, wir haben dann volles Verständnis."

Die geführten Wanderungen in die Berge Pekings kosten umgerechnet zwischen 50 und 60 Euro. Weitere Informationen auf der englischsprachigen Webseite: www.beijinghikers.com. SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Beijing Hikers gibt es seit 2001. Damals war es eine Art Wanderverein, gegründet von ein paar Lehrern der internationalen Schule, die die Berge im Umland erkunden wollten. Daraus wurde eine erfolgreiche Firma. Hayden leitet sie inzwischen gemeinsam mit seiner Frau. Vor zwölf Jahren kam der heute 39-Jährige nach China, seine Mutter war damals Lehrerin in Peking. Sie nahm ihn mit auf eine der Wanderungen, eine zweite und dritte folgten. Irgendwann kümmerte er sich dann um die Website und führte selbst Touren. Heute arbeiten ein Dutzend Leute für Beijing Hikers. Bis zu sechs Wanderungen bieten sie pro Woche an. Auch mehrtägige Touren außerhalb Pekings haben sie im Programm. In die Provinz Gansu zum Beispiel, zu den Ausläufern des Himalajas. Oder nach Yunnan an der Grenze zu Myanmar.

Wie bei fast allen erfolgreichen Unternehmen in China gibt es Nachahmer. Eine junge Frau, erzählt Hayden, sei eine Zeit lang auffällig oft mitgekommen, kaum eine Tour habe sie ausgelassen. Wenig später tauchte dann eine Website auf. Ähnliche Aufmachung und identische Routen. "Selbst meine Texte hat sie kopiert. Wir finden das aber eher amüsant", sagt Hayden.

Nach zwei Stunden auf der Mauer legt Jake hinter einem Vorsprung eine Pause ein, hier ist es windgeschützt. Auch Hayden zieht eine Tupperdose aus dem Rucksack, er hat ein hartgekochtes Ei und Tofu dabei. Nach einer halben Stunde geht es weiter durch ein enges Tal. Das Laub der Bäume leuchtet rot und gelb. Links und rechts ragen schroffe Felsen auf, ist man wirklich noch in Peking oder doch irgendwo in den Rocky Mountains?

Um solch eindrucksvolle Landschaften zu finden, kundschaften Hayden und seine Kollegen regelmäßig das Umland aus. Ist die Aussicht gut? Oder stören dampfende Stahlwerke, oder eine Windmühlenfarm? Mehr als 70 Wanderwege haben sie sich in all den Jahren erschlossen. "Es kommt aber immer wieder vor, dass wir Wege verlieren", erzählt Hayden. Mal baut ein Immobilienentwickler plötzlich eine Siedlung in ein verlassenes Tal, mal asphaltiert der Staat eine Schnellstraße. "Oder ein Weg ist nach den Überflutungen nicht mehr begehbar." Ein, zwei Mal im Jahr macht er sich mit einem Stoßtrupp auf den Weg und schlägt mit Axt und Machete verwachsene Wege wieder frei. Denn außer den Wanderern kommt niemand vorbei.

Nach fünf Stunden ist die Wanderung beendet. Der Fahrer hat Tee gekocht und einen Campingtisch aufgebaut, es gibt Kekse und Chips. Gegen 16 Uhr setzt sich der Bus in Bewegung, zurück ins Zentrum. Drei Stunden dauert die Fahrt durch den Stau ins Gewühl der Großstadt.

© SZ vom 10.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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