Wintersport in den Alpen:Ein sonniger Sommertag, ideal zum Skifahren?

Reise; Dominik Prantl

Der Gasthof Tibet in Südtirol

(Foto: Tibet Hütte)

Auf dem höchsten Gebirgspass Italiens wird seit fast hundert Jahren Wintersport betrieben. Und zwar nur im Sommer. Ist das pervers oder ein Modell für die Zukunft?

Von Titus Arnu

Die kleinen grünen Männchen sind überall. Vielleicht sind es auch grüne Mädchen, das erkennt man nicht so genau. Sie wuseln herum auf dem gefrorenen Hang - Mini-Figuren in würstchenartigen, hautengen Anzügen, mit Helmen und verspiegelten Brillen, die sich überirdisch schnell durch einen Wald aus roten und blauen Stangen bewegen. Was aussieht wie eine Invasion von Aliens ist eine Invasion von Ski-Assen. Die zukünftige Weltspitze des Skisports trainiert an diesem sonnigen Juli-Morgen unterhalb der Geisterspitze am Stilfser Joch.

Der Tag beginnt früh im Sommerskigebiet, schon um sieben Uhr laufen die Lifte. Die Pisten auf dem weitläufigen Ebenferner sind pickelhart. Nachts war es klar und kalt, der Schnee hat eine betonartige Konsistenz. Unten im Vinschgau wird es laut Wetterbericht 30 Grad heiß, oben an der Bergstation der Seilbahn, auf 3174 Metern, zeigt das Thermometer zwei Grad plus an. Ideale Bedingungen für die Nationalmannschaften, Skiklubs und Leistungsgruppen aus ganz Europa, die an diesem Vormittag an ihrer Slalom- und Riesenslalomtechnik feilen. Zu hören ist Französisch, Holländisch, Spanisch, Russisch, Tschechisch, Deutsch und Italienisch. Die Dreisprachenspitze, ein Gipfel am Stilfser Joch, müsste eigentlich in Siebensprachenspitze umgetauft werden, wahrscheinlich sogar in Neunsprachenspitze, sofern man Südtirolerisch und Schweizerdeutsch als eigene Sprachen definiert.

Das Skigebiet am Stilfser Joch im Grenzgebiet von Südtirol, der Lombardei und Graubünden war das erste Gletscherskigebiet der Welt - und es ist das einzige Skigebiet der Alpen, das nur im Sommer geöffnet hat. Von etwa Ende Mai bis Oktober laufen dort die Lifte, je nach Schneelage. In der Winterzeit ist die kurvige, steile Passstraße, die von Trafoi bis auf das 2757 Meter hohe Joch führt, wegen Lawinengefahr gesperrt. Die Hotels am Pass stehen dann leer, die Bahnen, Restaurants und Hütten ebenfalls. "Eigentlich pervers", sagt Karlheinz Tschenett, Hotelier auf dem Stilfser Joch und Miteigentümer der Liftgesellschaft. "Wir betreiben einen Riesenaufwand, um Skifahren im Sommer möglich zu machen, und dann lassen wir die ganze Infrastruktur die andere Hälfte des Jahres stillstehen, wenn Wintersport hier oben eigentlich am besten möglich wäre."

Früher kamen Clans, Fürsten und Filmstars. Heute kommen Neureuther und Dopfer

Eigentlich pervers - dieser Gedanke begleitet einen beim Sommerskifahren die ganze Zeit. Während sich leicht bekleidete Rennradfahrer und -fahrerinnen schwitzend die Straße hochquälen, reisen die Wintersportler mit Autos und Bussen an und lassen sich dann von Liften bis auf gut 3400 Meter transportieren. Man könnte seine Zeit ja auch wunderbar mit Flipflops am Badesee verbringen. Wenigstens wird nicht so viel los sein wie zwischen Weihnachten und Neujahr in Kitzbühel, hatte man gehofft. Von wegen: Auf dem Parkplatz ist fast nichts mehr frei. Anstehen an der Kasse, Schlangen vor den altertümlichen Liften. Es gibt eine Seilbahn vom Pass zum "Livrio", weiter oben laufen die Schlepplifte "Geister I" und "Geister II", "Payer" und "Cristallo"; im Hochsommer werden damit maximal 15 Pistenkilometer erschlossen. Alle weiteren Lifte wurden in den vergangenen Jahren stillgelegt und abgebaut, weil sich deren Betrieb nicht mehr lohnte und der Gletscher immer weiter abschmilzt.

Wintersport in den Alpen: SZ-Karte

SZ-Karte

Sommerski ist nicht gerade ein Modesport, erst recht nicht, seit vom Klimawandel die Rede ist. Früher, in den 1970er- und 1980er-Jahren, war Skifahren im Sommer ein Angeber-Hobby, heute schämt man sich dafür. "Wer Rang und Namen hatte in Italien, war im Juli oder August wenigstens ein paar Tage hier oben", sagt Umberto Capitani, Direktor der Liftgesellschaft und Betreiber des Hotels Livrio an der Bergstation der Seilbahn. Der Agnelli-Clan, die Fürstenfamilie von Monaco, Nudel-Milliardäre, Filmstars und Politiker - alle kamen mit ihrer Entourage regelmäßig zum Sommerskiurlaub aufs Stilfser Joch, die Bodyguards immer mit auf der Piste. Es gab 250 fest angestellte Skilehrer für das kleine Gebiet. Heutzutage sind es die Profisportler, die dem Gletscher etwas Glamour verleihen. Die deutschen Skiprofis Felix Neureuther und Fritz Dopfer üben fleißig an den Stangen, die österreichische Rennläuferin Anna Fenninger, die jetzt Anna Veith heißt, trainiert einen Tag später am gleichen Hang. Und Lokal-Held Gustav Thöni, einer der erfolgreichsten Skirennläufer aller Zeiten, ist auf dem Gletscher öfters mit seinen Hotelgästen unterwegs.

Ist es nicht pervers, auf einem Gletscher Ski zu fahren?

Oben an der Geisterspitze, auf mehr als 3000 Metern, lässt es sich tatsächlich ganz gut Skifahren an diesem sonnigen Vormittag. Die Kanten schneiden in die griffige Pistenoberfläche, auf den flach planierten Hängen mit Blick auf den Ortler lässt es sich hervorragend carven. Wenn da nicht überall diese grünen Männchen wären, und die blauen, roten und gelben dazu. Gut die Hälfte der Pistenfläche ist abgesperrt für die Rennmannschaften, und wehe, man kommt denen als Otto Normalskiläufer in die Quere. Die Mehrheit der Gletscherskifahrer kommt aus beruflichen Gründen, weil sie Profisportler sind, Skitester, Skilehrerausbilder, Skimodehersteller.

Hoteliers und Liftbetreiber haben sich auf diese spezielle Kundschaft eingestellt, sie stellen Fitnessgeräte, Seminarräume und Pasta-Büfetts bereit. Doch die Sportteams allein können das Sommerskigebiet wohl nicht retten. Mehrere Hotels stehen komplett leer, die Anlagen sind veraltet, viele Gebäude verfallen langsam. Wenn man für einen James Bond-Film den Wohnort eines Ober-Bösewichtes bräuchte - hier gäbe es die idealen Kulissen dafür. Schön ist es nicht, dieses vor sich hin bröckelnde Konglomerat aus Ski-Universität, Imbissbuden, Hotelkästen und Seilbahnstationen.

Umberto Capitani ist trotzdem guter Dinge. Zum einen scheint die Sonne, zum anderen hat es am Vorabend im Tal ein Gewitter gegeben, und das bedeutet, dass es auf dem Gletscher ein bisschen geschneit hat. "Etwas angezuckert, wie Puderzucker auf einer Torte", schwärmt Capitani, während er den Zucker in seinen Kaffee rührt. Eine Beschneiungsanlage wie auf dem Söldener Gletscher gibt es am Stilfser Joch nicht, die Pisten bestehen zu 100 Prozent aus Naturschnee; mittlerweile mutet das schon fast exotisch an in den Alpen. Um den Gletscher vor der intensiven Sommersonne zu schützen, haben die Liftbetreiber 30 000 Quadratmeter weiße Kunststoffplanen ausgelegt. Und im Herbst schieben Pistenraupen gewaltige Schneedepots zusammen. Bei Bedarf werden blanke Stellen auf dem Gletscher mit Schnee geflickt.

Schon 1920 fuhr man am Stilfser Joch im Sommer Ski, damals stiegen die Touristen noch zu Fuß auf. 1950 wurde die erste Seilbahn gebaut, die Schlepplifte kamen erst später hinzu. Skifahrer ließen sich damals von Pistenraupen am Seil den Hang hochziehen, um dann ein paar Schwünge im sulzigen Schnee zu machen. Schon seit Jahrzehnten gibt es die Idee, den Gletscher mit dem Skigebiet Trafoi auf der Südtiroler Seite des Passes zu verbinden, diese Seilbahn würde einen Ganzjahresbetrieb ermöglichen. 1997 und 2001 wurde das Projekt vom Gemeinderat abgelehnt. Lokalpolitisch ist der Ausbau des Skigebietes Stilfser Joch eine schwierige Angelegenheit, denn im nahen Sulden hat man nicht unbedingt Interesse an Konkurrenz, zudem sind die Zuständigkeiten zwischen Südtirol und der Lombardei bürokratisch nicht so leicht zu klären.

Und ist es nicht sowieso pervers, auf einem Gletscher Ski zu fahren, besonders im Sommer? Muss man da nicht ein schlechtes Öko-Gewissen haben? Nein, im Gegenteil, meint Karl Heinz Tschenett: "Gerade wegen des Klimawandels haben Gletscherskigebiete doch eine Zukunft." Während es in tiefer gelegenen Skigebieten, zwischen 1000 und 2000 Metern, statistisch gesehen immer weniger Schnee geben wird, nehmen die Niederschlagsmengen oberhalb von 3000 Metern zu, prognostizieren Klimaforscher. An der Geisterspitze lagen auf knapp 3500 Metern noch im Juli 1,50 Meter Schnee. Da können die kleinen grünen Männchen oft über die Piste kratzen - das reicht für jede Menge Wintersport im Hochsommer.

Ob Sommerski lässig ist oder peinlich, ist letzten Endes Gefühlssache. Um 8 Uhr morgens fühlt es sich angenehm kühl an, mit Blick auf die grünen Wiesen durch den Schnee zu kurven. Mittags ist es schon zu warm, aber die Lifte laufen sowieso nur bis 12.30 Uhr. Beim Umziehen auf dem Parkplatz wird es dann peinlich: Genau in dem Moment, als man die Skihose auszieht und in die kurze Hose schlüpft, fährt ein Bus voller italienischer Spitzensportler vorbei. Großes Hallo. "Bel culetto!" (hübscher Po!) ist noch der harmloseste Kommentar.

Reiseinformationen

Anreise: Am besten mit dem Auto über den Reschenpass in den Vinschgau und weiter auf das Stilfser Joch, von München knapp vier Stunden Fahrzeit.

Übernachtung: Auf der Passhöhe gibt es diverse Hotels; besondere Aussicht bietet das Albergo Tibet, ab 40 Euro p. P. im DZ inkl. F., www.tibet-stelvio.com

Skigebiet: Das Gletscherskigebiet Stilfser Joch ist von Mai bis Ende Oktober geöffnet. Die Pisten (fast 30 Kilometer) liegen zwischen 2750 und 3450 Metern. Die Lifte starten im Hochsommer um 7 Uhr und laufen bis 12.30 Uhr. Skipass 42 Euro, www.passostelvio.com

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