Süddeutsche Zeitung

Gaisalpsee im Allgäu:Opfer seiner Beliebtheit

Der Gaisalpsee im Allgäu ist ein Bergsee wie aus dem Bilderbuch - und ein Beispiel dafür, was mit Orten geschieht, die zum Trendziel werden.

Von Ingrid Brunner

Smaragdgrün schimmert der untere Gaisalpsee in der Mittagshitze. Im Wasser spiegeln sich die Grasmatten, die dunkleren Latschenkiefern und das Rubihorn. Die Farbe des Wassers changiert im Wechsel von Licht, Wetter, Tages- oder Jahreszeit, ist auch mal eisblau, türkis- oder bronzefarben. Ein Idyll auf 1508 Metern. Wer wollte hier nicht kurz ins Wasser springen? Tatsächlich stehen an einem heißen Augusttag gut ein Dutzend Wanderer mit aufgekrempelten Hosenbeinen am seichten Ufer, ein paar Mutige schwimmen im kühlen Wasser. Hier möchte man gern mal länger bleiben.

Luitpold Zobel und der Heinzi, der lieber nur seinen Vornamen sagen will, haben das Privileg, genau das tun zu können: Sie hüten während des Almsommers Jungrinder. Die beiden Hirten lieben es hier oben. "Wenn du das mal gemacht hast, dann kannst du es nicht mehr lassen", sagt Heinzi. Schon sein siebter Almsommer sei das. Was sich verändert hat in den sieben Jahren? "Die Leute sind immer mehr geworden", sagt Luitpold Zobel. In Zahlen bedeutet das, dass unter der Woche bei Sonnenschein zwischen 2000 und 3000 Wanderer heraufkommen. Pro Tag. Der schmale Aufstieg gleicht dann einer Ameisenstraße. Corona hat den Ansturm weiter verstärkt. Und ein Superlativ, den, irgendwo im Netz von irgendwem gepostet, viele Einheimische eher als Plage denn als Auszeichnung empfinden: schönster Alpensee. "Sogar Mountainbiker kommen jetzt hier rauf", sagt Zobel. Wie das? Der Weg von Reichenbach herauf ist steil, teils mit Seilen und Eisentritten gesichert. "Die tragen ihre Räder", sagt er. Die Feierabendrunde mit dem Rad sei derzeit angesagt.

Luitpold Zobel, dessen Familie den Berggasthof Gaisalpe betreibt, hat schon aus unternehmerischer Sicht nichts gegen Wanderer - allerdings nur, wenn sie bei Tage kommen. So sieht das auch Bernhard Kirchbihler. Mit seinem Vollbart sieht der 35-Jährige aus wie einer jener Hipster, die gerne abends zum See hinaufsteigen, um zu übernachten. Doch Kirchbihler ist Berufsjäger und Naturschutzwächter. "Späte Bergsportler verschrecken das Wild, das in der Dämmerung herauskommt, um zu äsen." Für die Tiere bedeutet das Stress: Gams und Reh ziehen sich in Schutzwälder zurück, wo sie junge Bäume verbeißen.

Naturliebe reklamieren sie alle für sich: die Hirten, der Jäger und auch die Ausflügler. Die Liebe zur Natur sollte sich in einem Naturschutzgebiet wie den Allgäuer Hochalpen in Rücksicht äußern, findet der Biologe Henning Werth. Er arbeitet am Zentrum Naturerlebnis Alpin bei der Regierung von Schwaben. Doch die meist gut vernetzten Wildcamper tauschen lieber Tipps aus, wie man Verbote und Beschränkungen umgehen kann, berichtet Werth. "Die Wildcamper berufen sich darauf, dass Biwakieren erlaubt sei." Doch das sei nur in Ausnahmefällen, als Notbiwak, erlaubt: Wenn etwa Kletterer einen langen Aufstieg hätten bis zur Kletterwand, sei ein Biwak am Fels toleriert - nicht am Ufer des Sees. "Aber wer ein Tragerl Bier und einen Grill dabei hat, soll mir nicht erzählen, das ist ein Notbiwak", sagt Jäger Kirchbihler.

Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Städtern, die ein Mikro-Abenteuer in der Natur erleben wollen, und den Naturschützern. Ordnung könnten Ranger schaffen, sollte man meinen. Doch Ranger sind nicht für den Vollzug zuständig. Anders als in Nordamerika, wo Ranger die Autorität von Sheriffs haben. "Aber hier können wir die Leute nur freundlich darauf hinweisen, dass sie sich in einem Naturschutzgebiet befinden", sagt Werth. Unterwegs zeigt er all die Schilder, die er und seine Kollegen aufstellen, auf Parkplätzen, am Beginn des Wegs, direkt am See. Da steht: "Zelten, Lagern und Biwakieren sind im gesamten Naturschutzgebiet nicht erlaubt. Übernachtungen am Gaisalpsee sind daher verboten." Werth pflanzt nicht nur Schilder in den Boden: Auf Touren zu den seltenen Birkhühnern oder anderen Tieren erklärt er den Besuchern, warum diese Arten Schutz und Rückzugsgebiete brauchen.

Auch andere Seen leiden unter Besuchermassen. Besonders schlimm hat es den Pragser Wildsee in Südtirol erwischt: Das Foto einer Bloggerin im Holzkahn führte zu einem Andrang, der an manchen Tagen den Verkehr ins Pustertal kollabieren ließ. Als der Schrecksee bei Bad Hindelang zum Hotspot wurde, setzten die zuständigen Behörden darauf, zu überzeugen, informieren und kontrollieren. Dreißig bis vierzig Zelte habe man dort in Spitzenzeiten gezählt. Die meisten Leute erreiche man mit der Bitte umzukehren, sagt Werth. Irgendwann habe es sich herumgesprochen, dass es nicht mehr so chillig ist, am Schrecksee zu übernachten. "Was wir jetzt am Gaisalpsee sehen, ist eine Verlagerung des Problems." Die Karawane sei weitergezogen.

Dabei gibt es im Allgäu malerische Seen für alle - jenseits der Massen. Man müsste nur mal wieder eine Wanderkarte oder einen Reiseführer in die Hand nehmen. Selbst Neues entdecken, statt den Fotos anderer hinterherzulaufen. Das wäre doch mal eine Idee.

"Unterwegs mit dem Ranger": Das Zentrum Naturerlebnis Alpin erklärt auf kostenlosen Touren die Natur der Allgäuer Hochalpen, Tel. 0821 / 3273465, weitere Auskünfte: allgaeu.de

Noch mehr schöne Bergseen finden Sie hier (und die zugehörigen Artikel unter der Karte):

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SZ vom 13.08.2020/edi
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