Der Lichtkegel zuckt über die dunkle Alm, begleitet von Hundebellen und scheppernden Kuhglocken."Ejah, vea, vea!" Laute Rufe hallen vom unteren Ende der Weide, treiben die Kühe hinauf und in den Stall. Heißer Atem aus feuchten Schnauzen, lautes Muhen und drängende Leiber. Mein Magen knurrt. Es ist Viertel vor drei Uhr nachts. Ohne Kaffee und Frühstück beginnt auf der Alp Tarvisch im Schweizer Kanton Graubünden der Tag.
"Wir sind das von klein auf gewöhnt", sagt Balthasar Jud und schließt die Stalltür. Das, damit meint der 58-jährige Älpler das Leben in den Bergen. Jeden Sommer ziehen Schweizer Bauern für drei, vier Monate mit ihren Tieren auf die Hochweiden. Ihnen folgen immer mehr junge Deutsche und Österreicher. Angelockt von Internetportalen wie zalp.ch und Werbekampagnen der Tourismusagenturen suchen sie auf den Almen ihren Traumjob.
Das schlichte Leben in der Natur erscheint Studenten als urtümliches Outdoor-Camp: grüne Wiesen und mittendrin der Bergsenn, mit Blume im Mundwinkel und Wanderstock in der Hand. Heidi lässt grüßen, aber wie traumhaft ist der Alpalltag wirklich?
Am frühen Morgen reichen drei Jacken kaum gegen die Kälte. Drinnen im Kuhstall herrschen dagegen Saunatemperaturen. Während die Wellness-Bereiche teurer Luxushotels dezent nach ätherischen Ölen duften, riecht Natur hier anders. Leib an Leib stampfen die Tiere auf der Stelle. Die braune Isolde steht ganz vorne. Bereitwillig rückt sie auf ein Tätscheln zur Seite und lässt mich unter den 700-Kilogramm-Körper tauchen. Die Haut am Euter ist rosa und fühlt sich schrumpelig an. Warm liegen die Zitzen in der Hand. Sie müssen massiert werden, bis die Milch kommt. "Wie beim Mann", kommentiert Balthasar.
Die Kuh lässt mein zaghaftes Zupfen stoisch über sich ergehen. Irgendwann sitzen tatsächlich alle vier Saugnäpfe der Melkmaschine fest. Ich schwitze. Eine von neunzig Kühen ist geschafft. Balthasar und seine Frau Anita rücken mit spitzen Melkschemeln von Tier zu Tier, die derben Hände greifen routiniert zu. Dann kommt Lea. Ein verkrusteter Kuhschwanz wedelt mir um die Ohren, ist es Lehm oder Schlimmeres? Die Motivation schwindet. Es stinkt. Fliegen schwärmen. Einzig die Aussicht auf Frühstück spornt an.
Von den knapp vier Stunden, die bis dahin noch vergehen sollen, ahne ich nichts. Das Leben auf der Alp ist "streng", untertreiben die Bewohner. Kein Ausschlafen, keine Freizeit, kein Fernsehen. Nur ab und an eine Runde Karten "jassen" am Abend. Der Tag folgt dem Rhythmus der Kühe. Aufstehen, melken, auf die Weide treiben, putzen, essen, wieder melken und schlafen. Ein erwachsener Helfer bekommt dafür nach der Alppersonalrichtlinie zwischen 105 und 160 Euro Lohn in der Woche. Dieser vermeintlich leichte Verdienst zieht in den Sommermonaten junge Arbeiter aus ganz Europa auf die 15.000 Schweizer Almen.
Doch der harte Alltag zerstört schnell die romantischen Vorstellungen vieler Ferienjobber - sie reisen nach wenigen Tagen wieder ab. Müde, erschöpft und in meiner mit Kuhmist gesprenkelten Hose kann ich die Fluchtgedanken verstehen. Aber nur kurz.
Genau als sich die Sonne über den Piz Mitgel schiebt, gibt es das ersehnte Frühstück. Die Wanduhr mit eingraviertem Kuhkopf im Esszimmer zeigt Sieben. Knarzende Stühle und eine mit bestickten Kissen beladene Eichenbank stehen um den großen Holztisch. Darauf warten selbstgemachter Joghurt und Butter, Bauernbrot, Käse, Marmelade und noch dampfende Milch frisch von der Kuh.
Alles schmeckt intensiver als in der Stadt. Das stete Läuten der Kühe auf der Weide mischt sich mit den Klängen aus dem blauen Radio. Gewärmt von den Sonnenstrahlen, die durch die weißen Gardinen fallen und dem Feuer, das Balthasar extra angefacht hat, strecken alle die schweren Arme und Beine von sich. An den ersten Tagen merken auch erfahrene Älpler wie die Juds die Arbeit in den Knochen.
Selten fängt die Alpsaison so spät an. In diesem Jahr erreichten die letzten Tiere die Sommerweiden erst Ende Juni. Genau wie ich. Eine Herde aus neunzehn Kühen und ebenso vielen lärmenden Glocken begleitete mich drei Stunden lang. Erwartungsfroh galoppierten die Tiere im Dorf Savognin los, den Großteil des Weges sah ich die meisten nur von hinten. Es ging steil nach oben, bis auf 1.900 Meter, knapp über der Baumgrenze.
Was in Heimatfilmen romantisch aussieht, entpuppte sich als Konditionstraining. Ich verfluchte sowohl den warmen Fleecepullover als auch die Kühe - deren Tempo immerhin in den Serpentinen langsam nachließ - und den Berg ganz allgemein. Bis zur Ankunft. Ein letzter Rest Schnee schmolz in der Sonne vor der Alp Tarvisch, das ganze Tal lag vor mir. Die Strapazen des Aufstiegs waren vergessen und auch am nächsten Morgen entschädigt der Blick für die kurze Nacht. "Wenn ein Älpler zu diesem Zeitpunkt nicht rauf darf, dann fehlt ihm was", sagt Balthasar. Er schiebt sich ein letztes Stück Frühstücksbrot in den Mund und geht auf die Weide.
Arbeit gibt es immer. Balthasar senst am Wegrand vor der Hütte. Mit kräftigen Schwüngen pflügt er die glänzende Klinge durch Gras, Kräuter und Blumen. Sofort steigt der Geruch nach frischem Heu in die Nase. Anita säubert währenddessen in der Waschküche die Blechkannen vom morgendlichen Melken. Gefüllt wiegen die grauen Behälter an die 40 Kilogramm. Mein Versuch, lässig ein, zwei Kannen aus dem Stall zu tragen, scheitert. Stattdessen erhalte ich den Auftrag, Butter zu schlagen. Die Glasmaschine erinnert an eine altmodische Kaffeemühle und quietscht mindestens genauso.
Auf dem Heuwagen vor der Alp sitzend, Grasgeruch in der Nase, komme ich mir doch ein bisschen wie Heidi vor. Allerdings nur bis ein Mountainbiker vorbeihetzt und die neuesten Ergebnisse der Fußball-Weltmeisterschaft wissen will.
Immer wieder klaffen die Alp-Realität und die Geschichten von Johanna Spyri auseinander: Wenn Balthasar sich mit der Hand durch den beige-grauen Bart fährt, in Gummistiefeln und auf einen Stock gestützt, scheint er der personifizierte Alpöhi. Bis in seiner Jackentasche das grüne Handy piepst. Seit acht Jahren bewirtschaftet er jeden Sommer mit seiner Frau Anita und Tochter Barbara die Alp Tarvisch. Dort surft die 21-Jährige mittlerweile mit mobilem Internet-Stick im Web und zum schönsten Aussichtspunkt der Alp fahren wir im weißen Allrad-Jeep. Sogar die Milch wird nicht mehr in Kannen ins Dorf getragen, sondern fließt vier Kilometer unterirdisch durch die Alp-Pipeline nach Savognin. Der richtige Älpler allerdings geht den ganzen Sommer über nicht runter.
Von Balthasar verabschiede ich mich deshalb auf der Weide zwischen Zaunpfählen, die er neu mit Draht bespannt. Anita fährt mich im Jeep Kurve für Kurve zurück. An der Käserei vorbei, in der die Tarvisch-Milch schon vor Stunden angekommen ist. Noch nach Kuh stinkend, trete ich in die Lobby des Hotels. Für Menschen wie Balthasar ist das Alpleben sicher ein Traum. Für mich ist das jetzt eine heiße Dusche. Und ein Arbeitstag, der nicht um drei Uhr morgens beginnt.
Informationen: Graubünden Ferien www.graubuenden.ch oder unter contact@graubuenden.ch, und aktuelle Jobangebote auf Schweizer Alpen (zalp.ch)