Städtereisen:Italiens Touristenmagneten im Dilemma

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Der Markusplatz von oben - in einem eher ruhigen Moment. (Foto: Oliver Morin/AFP)

Buchungen für den Markusplatz, Sperrungen, sogar Eintritt? Immer mehr italienische Städte arbeiten an Ideen, um der Touristenmassen Herr zu werden. Doch sie wirken hilflos.

Von Thomas Steinfeld

Hans Magnus Enzensberger publizierte im Jahr 1958 einen Essay, den er "Eine Theorie des Tourismus" nannte. Der moderne Reisende, erklärte er darin, suche in der Ferne das "Elementare", das "Unberührte" und das "Abenteuer". Er komme dort allerdings nie an: "Unter welchem Namen das Ziel auch verstanden wird, ändert an der Dialektik des Vorgangs nichts: indem es nämlich erreicht wird, ist es auch schon vernichtet." Diese Dialektik hat seitdem nichts von ihrer Geltung verloren: Anstatt auf das Fremde, Großartige und Unbekannte zu stoßen, trifft der Tourist in der Ferne vor allem auf sich selbst, und zwar in großem Maßstab und mit verheerenden Folgen. Das bedeutet auch, in heutige Verhältnisse übertragen: Wird eine Stadt zum Weltkulturerbe erklärt, schafft der Ehrentitel die besten Voraussetzungen zur Vernichtung genau der Einrichtungen, die man für die einzigartige Kultur dieser Stadt halten könnte.

Immer neue Vorschläge, wie man der in die Stadt drängenden Touristen Herr werden könne, kommen derzeit aus dem Rathaus von Venedig: In der vergangenen Woche hieß es, gegen Ende des Jahres wolle man ein elektronisches Buchungssystem für Besuche auf dem Markusplatz einführen, probehalber. Am vergangenen Wochenende wurden, unter dem Vorwand von Sicherheitsmaßen für das Fest des "Redentore", der Markusplatz und die angrenzende Uferpromenade zum ersten Mal von der Polizei so gesperrt, dass nur eine streng begrenzte Zahl von Menschen Zugang erhielt. Zur Feier der Nacht wurde zudem der Schriftzug "EnjoyRespectVenezia" auf den Campanile projiziert, wodurch die Inbesitznahme des Platzes für die Industrie des Tourismus einen Charakter von Denkmalschutz erhielt. Ein paar Wochen zuvor war sogar von einem Eintrittsgeld für die schönste Piazza der Welt die Rede gewesen, ganz so, als wäre es selbstverständlich, öffentlichen Raum privaten Interessen zu unterwerfen.

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Zwischendurch wurde die Einrichtung neuer Imbissbuden für Kebab und Pizza untersagt, und es sollen auch keine weiteren Hotels mehr eingerichtet werden dürfen (sie entstehen stattdessen fünf Kilometer entfernt auf dem Festland). Ferner wurde im Rathaus diskutiert, ob man nicht die Zahl der Busse beschränken könne, in denen die Touristen anreisen, die nur einen Tag bleiben und also wenig Geld in die Stadt tragen. Und immer wieder wird gefordert, man müsse die Besucher überhaupt erst einmal zählen - so als wäre die Lage beherrschbarer, wenn man wüsste, ob man es mit 25 oder 35 Millionen Menschen pro Jahr zu tun hat (woraus sich im Übrigen ein Verhältnis von etwa einem Einwohner auf 600 Touristen pro Jahr ergibt). Unterdessen begleitet die italienische Presse die Vorschläge aus der Politik mit Kampagnen, in denen der Verfall ("il degrado") der attraktivsten Orte mit Fotografien illustriert wird: Touristen, die am Palazzo Ducale ihre Pizzen aus Kartons verzehren, Touristen, die in Kanäle urinieren, Touristen, die auf dem Markusplatz ihre bleichen Oberkörper der Sonne entgegenhalten.

Venedig ist keine Stadt mehr, sondern eine Art Themenpark

In allen diesen Vorschlägen kommt dasselbe Dilemma zum Ausdruck: Auf der einen Seite wollen Politiker und Unternehmer auf die Touristen nicht verzichten. Alle sollen willkommen sein, denn sie bringen das Geld in die Stadt. Auf der anderen Seite ist beim besten Willen nicht mehr zu übersehen, dass die Touristen das Ziel zerstören, das sie zu erreichen suchen. Irgendwann in den vergangenen Jahren wurde dabei offenbar eine Linie überschritten: eine Grenze, jenseits derer Venedig aufhört, als Gemeinwesen zu funktionieren und also keine Stadt mehr ist, sondern eine Art Themenpark, dessen Besonderheit darin besteht, dass dieser Park sich selbst zum Thema hat. Für die verbliebenen Einheimischen kommt diese Entwicklung einer Enteignung gleich. Denn nicht nur, dass jeder Gang zum Supermarkt durch eine Menschenmenge führt: Weil der Tourismus nur bestehen lässt, was dem Tourismus zugutekommt, ändert selbst die eigene Wohnung ihren Charakter (sie wird pittoresk, oder sie wird zu einer Insel im Strom), während sich die im öffentlichen Raum zurückbleibenden Monumente in einbalsamierte Spolien verwandeln. In der Häufigkeit, mit der Venedigs Stadtregierung gegenwärtig Vorschläge zur Regulierung des Tourismus vorstellt, kommt zum Ausdruck, dass auch der Bürgermeister - ein Mann des Geldes und der Geschäfte - eigentlich weiß, dass diese Linie bereits überschritten wurde.

Angekündigt hatte sich dieser Übergang schon lange, vor allem darin, dass es immer weniger Venezianer gibt: Hatte die Stadt um das Jahr 1980 noch etwa 100 000 Einwohner gezählt, lebten dort zwei Jahrzehnten später noch rund 65 000. Aktuell liegt die Zahl bei gut 54 000 Bürgern, worunter sich überproportional viele alte Menschen und entsprechend wenige Kinder befinden. Mit den Menschen verschwinden die Bäckereien und die Fischläden, die Handwerker und die Zeitungskioske. In jüngster Zeit verschärfte sich die Entwicklung durch den Erfolg des Internet-Portals Airbnb, das endgültig dafür sorgt, dass der Wohnraum in Venedig für die Bezieher auch mittlerer Einkommen unerschwinglich wird: Etwa 6000 Übernachtungsmöglichkeiten werden in diesem Portal für Venedig aufgeführt, die meisten davon sind ganze Unterkünfte. Hinzu kommen die inoffiziell an Touristen vermieteten Wohnungen, von denen es möglicherweise genauso viele gibt. Wie keine andere Branche wurde die Industrie des Tourismus durch das Internet dereguliert. Virginia Raggi, Bürgermeisterin in Rom, schlägt als Maßnahme gegen die Verwandlung ganzer Viertel in historische Kulissen für ambulierende Fremde vor, die Ansiedlung von Handwerkern und Buchhandlungen zu fördern und den Betrieb von "convenience stores" (kleinen Läden, in denen man auch mitten in der Nacht ein Sandwich und eine Flasche Wein kaufen kann, sie werden oft von Einwanderern betrieben) zu behindern. Auch diese Idee wirkt hilflos.

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In anderen italienischen Städten sieht es ähnlich aus wie in Venedig oder Rom. In Florenz werden 8000 Wohnungen über Airbnb vermietet. Das entspricht einem Anteil von fast zwanzig Prozent am insgesamt im historischen Zentrum zur Verfügung stehenden Wohnraum. In Matera (Region Basilicata), der Kulturhauptstadt des Jahres 2019, liegt die entsprechende Quote gar bei einem Viertel. "Il selfie del mondo" ("Das Selfie der Welt", Feltrinelli 2017) nennt der italienische Journalist Marco d'Eramo das Prinzip einer Entwicklung, in der die Einheimischen zunehmend gezwungen werden, sich "wie Taucher in Fischschwärmen" zu verhalten, stets darauf bedacht, mit der fremden Masse nicht in Berührung zu kommen. Das "Selfie" trägt dieses Buch im Titel, weil diese Technik eine Veränderung im Interesse der Touristen markiert: Es kommt ihnen, anders als zu der Zeit, in der Hans Magnus Enzensberger seine "Theorie des Tourismus" schrieb, nicht mehr darauf an, sich dem "Elementaren", dem "Unberührten" oder dem "Abenteuer" auszusetzen. Vielmehr vollziehen sie mit dem "Selfie" eine Gleichung zwischen sich selbst und nicht dem fremden Ort, sondern dem vertrauten Bild des fremden Ortes. "Ich hier", lautet die Parole, "und hier sieht es genauso aus, wie man es sich vorstellt."

Selbstverständlich versuchen die Einheimischen, sich gegen die Zerstörung der Stadt zu wehren. "Mi non vado vai", lautet die Parole der Venezianer, "ich gehe nicht fort". Aus manchen Fenstern hängen sogar Fahnen mit der englischen Aufschrift "Tourists go away" ("Touristen, geht fort"). Doch helfen die Banner nicht. Denn einmal abgesehen davon, dass auch die Politik ein Interesse daran hat, die verbliebenen Bürger nicht zu verlieren (die sich, wenn sie geschützt werden sollen, in Eingeborene verwandeln, und ihre Wohngebiete werden zu Protektoraten): Nach welchen Kriterien sollen Menschen daran gehindert werden, nach Venedig, Florenz oder Rom zu reisen?

Italienische Publizisten reden gegenwärtig gern davon, dass die kommerziellen Interessen der Tourismusindustrie den Bedürfnissen der jeweiligen Bürgerschaften unterstellt sein sollen. Doch was wären die Konsequenzen? Was immer vorgeschlagen wird - die Einführung von Eintrittsgeldern für ganze Städte, die Kontingentierung der Busreisen, ein Verbot der Umwandlung von Wohnräumen in Hotelzimmer -, läuft auf eine Beschränkung des Tourismus durch Erhöhung des Preises für einen Besuch hinaus.

Wenn die Maßnahmen Erfolg hätten, wäre den Ärmeren der Zugang zum Markusplatz erschwert. Allerdings scheint eine solche Vermischung von Masse und Klasse beabsichtigt zu sein: Mehr noch als der Tourismus als solcher stört offenbar der Tourismus in seinen proletarischen Varianten.

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Dario Franceschini, der italienische Kulturminister, hat nun offiziell erklärt, es gäbe Städte in Italien, die durch die in sie einfallenden Besuchermassen überfordert seien. Man arbeite deshalb an einer Strategie. Es wäre das erste Mal, dass es in diesem Land einen Plan für den Umgang mit dem Tourismus gäbe. Bis es so weit sei, sagt der Minister, müsse man die Menschenströme auf nicht minder interessante, aber weniger bekannte Orte umlenken - abseits der berühmten Stätten, die von allen Besuchern angestrebt werden.

Und hat er nicht recht? Ist Ascoli Piceno nicht fast so schön wie Siena, kann sich Modena nicht mit Verona, Viterbo nicht mit San Gimignano messen? Aber sollte man Viterbo tatsächlich die Verhängnisse von San Gimignano wünschen? Und sieht Dario Franceschini nicht, wie machtlos sich freundliche Reden gegen den Drang ausnehmen, sich an den wichtigen Orten aufgehalten zu haben? Er will offenbar nicht wissen, in welchem Maße der Tourismus nicht von Neugier und Entdeckerfreude vorangetrieben wird, sondern denselben Gesetzen des Kapitals gehorcht, die Turnschuhe in Nikes und Sonnenbrillen in Ray Bans verwandeln.

Es waltet ein Zentralismus darin, der die in der Vergangenheit erworbene Bedeutung einer sehenswürdigen Stadt unablässig weiter verstärkt, sodass mehr Menschen kommen, weil mehr Menschen kommen. Wenn man nicht zu marktwirtschaftlichen (Preiserhöhungen) oder polizeilichen (Beschränkungen des Zugangs) Mitteln greifen will, müsste man Marken zerstören, mit Absicht, um etwas gegen diesen Zentralismus zu unternehmen. So etwas aber ist noch nie geschehen, und es wird auch nicht geschehen.

© SZ vom 19.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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