Bali:Das Paradies wird überholt

Auf Bali machen die Traditionen der Einheimischen allmählich einer globalen Jugendkultur Platz.

Volker Breidecker

Ballermann war abgebrannt, als am 12.Oktober 2002 eine Diskothek in Balis Touristenhochburg Kuta zum Ziel eines Terroranschlags wurde, bei dem mehr als zweihundert Menschen ums Leben kamen. Drei Jahre danach war der Verdrängungspakt, den die Touristikindustrie mit ihren Klienten unterhält, wiederhergestellt, und die beliebte Ferieninsel boomte wie zuvor.

Doch da wurde Bali am 1.Oktober 2005 erneut von islamistischen Selbstmordattentätern heimgesucht: In drei vollbesetzten Restaurants von Kuta und dem benachbarten Jimbaran explodierten Sprengsätze und rissen wieder Menschen in den Tod.

Wo Reiseziele, die im Branchenjargon als "Destinationen" firmieren, zu Zielscheiben von Terroristen werden, bedürfte unsere ganze Anschauung vermeintlicher Ferienparadiese einer gründlichen Revision. Desgleichen die organisierte Blindheit und Unempfindlichkeit für fremde Lebenswelten, in denen der Reisende vorübergehen zu Gast ist.

Die Masse der Touristen konzentriert sich in den Ferienghettos von Balis Südküste. Alle Batikmuster und Legenden von Bali stammen jedoch nicht vom Meer, sondern aus dem Landesinneren: "Reisfelder in gerundeten Terrassen taten sich auf und falteten sich wieder zusammen und glitten zu den tiefen Stufen hinab, in denen Flüsse über Felsen strömten.

"An den Feldrändern hockten Bauern und rasteten von der Arbeit, und in den Bächen standen andere und wuschen sich und ihre Kühe. Und alle diese Menschen waren schön und stark und ebenmäßig, und in ihren Gesichtern standen Sanftheit und Vertrauen und Freundlichkeit. Die Landschaft aber wurde schöner und schöner, je höher sie kamen." So wurden "Leben und Tod auf Bali" in den 1920er Jahren im gleichnamigem Erfolgsroman von Vicki Baum geschildert.

Künstler und zivilisationsmüde Bohemiens

Es waren Künstler und zivilisationsmüde Bohemiens, die sich damals auf Bali niederließen und den Mythos vom letzten irdischen Paradies in die Welt setzten, bevor er nach Ankunft der großen Touristenströme zum exorbitanten Missverständnis auswuchs.

Denn wo suchten die Touristen ihr Paradies, und wo bunkerten sie sich ein? Am Meer, ausgerechnet am Meer und seinen Stränden, den von den kunstsinnigen Balinesen, die es in der kultivierenden Gestaltung ihrer Landschaften sonst zur Meisterschaft bringen, auf merkwürdige Weise vernachlässigten Terrains.

Den Balinesen gilt das Meer als ein unheilvoller Ort, an dem die Dämonen ihr Unwesen treiben. Die Tsunamis, die den indonesischen Archipel immer häufiger bedrohen, scheinen ihnen heute Recht zu geben. Das Meer ist die gefahrenreiche Gegenwelt zu den als Heimstätten der Götter verehrten Bergen.

Balis Küsten, wo sie nicht touristisch aufgerüstet und nach außen hin abgeriegelt wurden, sind deshalb ziemlich unwirtlich und werden von den Inselbewohnern, sofern sie ihren Lebensunterhalt nicht aus dem Fremdenverkehr beziehen, eher gemieden.

Während die Flüsse von den Bergen im Norden nach Süden und dort ins Meer fließen, sind alle Aktivitäten der Balinesen den heiligen Bergen und den aus ihnen hervorquellenden Gewässern zugewandt. Wasser flutet die Reisfelder, die sich wie Amphitheater in kunstvoll übereinander gereihten Terrassen zu himmelsspiegelnden Landschaftsgärten ausdehnen.

Nur im Süßwasser der Seen und Flüsse wird auch gebadet, nach balinesischer Sitte gleich zweimal am Tag. Das Wasser zu schöpfen und es in komplizierten Zeremonien zu heiligem Wasser zu verwandeln, ist die wichtigste Aufgabe der Priester. Quellendes Wasser ist der von andauernden rituellen Handlungen, von unablässigen Tempelfesten, Tänzen, Prozessionen, Schauspielen und Maskeraden bewegte Motor einer Religion, die sämtliche Lebensfelder der Menschen durchdringt und die als einzigartige Spielart des Hinduismus in solcher Intensität nur auf Bali zu finden ist.

Bali, die 140 Kilometer lange und 80 Kilometer breite Insel, ist aus der Sicht ihrer Bewohner so groß oder so klein wie der Götterhimmel und besitzt auch dessen Form. Da sie mit ihren rund 3,5 Millionen Einwohnern dichter als jede andere Insel dieser Erde bevölkert, eigentlich übervölkert ist, bedürfen die Balinesen der andauernden Zeremonien.

Sie folgen dabei ganz anderen, ungleich elastischeren zeitlichen Maßen und Rhythmen als den unsrigen: Über ein hochgradig entwickeltes förmliches und ritualisiertes Verhalten regeln die Balinesen sowohl ihren privaten wie öffentlichen Alltagsverkehr untereinander als auch ihre Beziehungen zu Fremden.

Auf Bali ist jede Handlung eine Art Tanz. Umgekehrt sind die berühmten balinesischen Tänze nichts anderes als religiöse Rituale, mit denen die Gegenwart der Götter gefeiert wird.

Auf Bali ist alles Leben, und alles Leben ist ungeschieden von Kunst und Religion: Da ist der schöne Brauch, ankommende Gäste mit erfrischenden Tüchern zu empfangen und Blüten über die Gästebetten zu streuen; oder die sich wie endlos wiederholende Pulpa-Zeremonie, bei der als stille Huldigung an die Götter eine Blüte mit äußerster Anmut zwischen die Fingerspitzen genommen, dann sanft an die Stirn geführt, anschließend weggeworfen und wieder eine neue Blüte aufgenommen wird.

Lebendig sind auch die Götter selbst; bei den Tempelfesten erscheinen sie wie leibhaftig unter den Menschen, sobald diese sich in ihren Tänzen und unter den hämmernden Klängen der Gamelanorchester einem Zustand der Trance nähern. In gleicher Weise lebendig sind aber auch die Dämonen, deren in Maskentänzen und Maskenspielen ausgetragenen Kämpfe mit den Göttern immerzu unentschieden enden.

Es ist dies Ausdruck einer durchaus realistischen Lebensauffassung, die auch in der risikoreichen modernen Welt eine gewisse Geltung beanspruchen kann.

Auf der Freilichtbühne vor einer Tempelfront aus sandfarbenen Ziegelsteinen spielt nach Eintritt der Dunkelheit ein dreißigköpfiges Gamelanorchester auf. Aus dem Tempelportal treten barfüßige Tänzerinnen in funkelnden Kostümen hervor. Als Kopfbedeckungen tragen sie hohe Blumengebinde.

Mit einem grandiosen Wiegen ihrer Hüften steigen sie langsam die Treppenstufen zur Bühne hinab. Mit weit aufgerissenen Augen folgen sie dem Spiel ihrer Hände und ihrer Finger, die den bloßen Raum, der nur mit Luft gefüllt ist, solange ertasten, berühren und liebkosen, bis dieser eben noch ungestaltete Raum dieselbe leibliche Form annimmt, die der Tanz figuriert.

Wie die metallophone Musik der Gamelanorchester in annähernd zeitlosen Modi ebenso unvermittelt wieder aussetzt, wie sie einsetzte, so kennen auch die balinesischen Tänze keine wirklichen Höhepunkte. Sie enden beinahe so, wie sie begonnen haben, ohne eine Ziel außerhalb des Raumes, den sie füllen.

"Kein Wort für Kunst"

Auf Balinesisch gibt es "kein Wort für Kunst - wir leben sie", sagt Agung Rai, der erfolgreiche Entrepreneur eines sanften und - wie das zeitgemäße Schlagwort heißt - "sensitiven Tourismus".

Auf seinem selbstgeschaffenen Alma Resort am Rande von Ubud unterhält er auch jene Tanzbühne. In seiner traditionellen Gewandung mit dem Sarong kommt er wie ein Kunstpriester, keineswegs aber wie ein Zelot daher. "Agung" ist im hochkomplizierten balinesischen Statussystem der Titel einer öffentlichen Person, eines Rollenträgers.

Eine höhere Kastenzugehörigkeit in den nicht minder komplizierten Systemen der Abstammung ist damit nicht verbunden, denn der Agung Rai ist der Sohn eines einfachen Reisbauern. Seine exotische Ferienanlage mit Kunstmuseum und zugehörigen Werkstätten hat er in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut, 150 Mitarbeiter stehen ihm heute zur Seite. Alles nötige Kapital hat er aus Erlösen im weltweiten Kunsthandel mit balinesischen Objekten zusammengetragen.

Dabei griff er auf eine bereits vorhandene Infrastruktur zurück: In dem ehemaligen Bergdorf Ubud hatte sich im Jahr 1927 der deutsche Maler Walter Spies (1895-1942) niedergelassen und einen teils einheimischen, teils internationalen Zirkel von Künstlern und Kunsthandwerkern um sich versammelt.

Agung Rai begreift sein Tun in dieser Nachfolge und die Ferienanlage aus kleinen solitären Villen mit prächtigen Gärten und Wasserbecken, die sich im prachtvollen balinesischen Stil an den üppig bewachsenen Ufern eines überbrückten Flüsschens entlang ziehen, auch nicht als "Hotel", sondern als eine "Quelle der Inspiration".

Im kleinen Reich des Agung Rai wirkt jeder Gegenstand, jeder Stein und jede Pflanzung wie mit unendlich geduldiger Liebe zum Objekt ausgewählt. Streift man den spirituellen Überbau, mit dem der Impresario das kosmische Harmonieprogramm seines Anwesens erläutert, einmal ab, so stößt man auf das schlichte Programm eines ganz pragmatischen Pantheismus, der sich über alle Dinge und Verrichtungen des Alltags erstreckt: Kunst sei nichts anderes als "die Liebe zu den Dingen" und komme daher auch ohne persönliche Signaturen aus.

Mit einer weit ausholenden konischen Bewegung seiner Arme weist er über das Gelände: "Schauen Sie sich nur um", sagt er zu seinen Gästen, "schauen sie über die Terrasse, was Sie alles sehen. Je mehr sie schauen, desto mehr sehen sie auch. Nehmen Sie sich Zeit!"

Zu späterer Stunde sitzt er im Schneidersitz auf dem Boden der Loggia eines im Kolonialstil erbauten Gebäudes mit der Aufschrift "Direktion". Gefragt, ob er hier sein Büro habe, zeigt er sich schockiert: "Ich sitze immer hier im Freien, nie da drinnen!"

Er deutet auf ein kleines Ledertäschchen an seiner Seite: "Das ist mein Büro. Ich trage es immer mit mir herum." Viel mehr als ein Mobiltelefon, eine Schachtel Rosmarinzigaretten, Feuerzeug, Autoschlüssel, Geldbörse, Papiere, Notizbuch und Schreibutensilien scheint das ambulante Büro nicht zu enthalten.

Am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang - zur "Goldenen Stunde", wie er sagt - nimmt er es an die Hand, führt seine Gäste auf eine lange Wanderung in der Morgendämmerung durch die Landschaft und zeigt ihnen, was noch in keinen Reiseführern nachzulesen ist.

Gefahr der Musealisierung

Auf Bali gibt es inzwischen mehrere Resorts dieser Art, die sich mit unterschiedlichen Nuancen in die im Alltag der meisten Balinesen noch immer ungeschiedenen sozialen, kulturellen und religiösen Infrastrukturen des Landes einfügen wollen: Sie verbinden die Pflege neuer und behutsamerer Formen des Tourismus mit der Absicht, den für Bali ökonomisch lebenswichtigen Tourismus gerade als Hebel dafür zu benutzen, Traditionen zu erhalten und zu bewahren.

Kritisch ist zu bedenken, ob die hehren Absichten im touristischen Geschäftsalltag nicht doch auf eine Musealisierung und - ähnlich wie in Museum-Shops - auf eine zwangsläufige Verkitschung balinesischer Traditionen hinauslaufen.

Bali ist heute im Wandel begriffen, die dicht bewohnten Städte und Siedlungen wachsen immer mehr zusammen, die globale Jugendkultur hat längst auch von dieser Insel Besitz ergriffen, und mit den Veränderungen in ihrem Alltagsleben verändern sich auch die Menschen. Das Paradies hat geschlossen.

Balis einzige Chance besteht künftig darin, weiterhin lebhaft, anschaulich und ausdrucksvoll daran zu erinnern.

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