So ein Riedberger Horn hinterm Dorf stehen zu haben, das ist schon was wert. Luis Trenker, der ewige Romantiker, soll es einmal als den "schönsten Skiberg Deutschlands" bezeichnet haben. Damit kann er schon deshalb nicht so falsch gelegen haben, weil man vom Gipfel wunderbar hinabblicken kann auf das Balderschwanger Tal. Nach Westen hin scheint es aus dem Allgäu flüchten zu wollen und öffnet sich wie ein Trichter gen Vorarlberg; durchzogen von einer Straße, verziert mit den Häusern der Gemeinde Balderschwang. Wer gerade einen Ortskundigen zur Hand hat, weiß dann auch, wie die angrenzenden Bergketten dieses Tals heißen: Im Norden der Nagelfluh, im Süden die Flyschberge. Aber mal ehrlich: So ein Riedberger Horn mitsamt seinem Flysch allein macht doch noch keinen Wintersportort, oder?
Wenn Wissenschaftler etwas verstehen wollen, dann versuchen sie, den Gegenstand auf einen kleinen Raum zu übertragen und einige Störfaktoren zu beseitigen. Biologen oder Mediziner greifen beispielsweise zum Reagenzglas oder zur Petrischale. Petrischalen besitzen einen Nährboden, mit dessen Hilfe sich untersuchen lässt, unter welchen Bedingungen Kleinstorganismen am besten gedeihen.
Balderschwang ist solch eine Petrischale, nur eben nicht für Kleinstorganismen, sondern eine für den Tourismus. Manche Menschen, die aus dem Wintertourismus eine Wissenschaft machen, glauben, dass es dafür als Nährboden schnelle Lifte, steile Pisten und viel Alkohol braucht. In der kleinen Gemeinde im letzten Winkel des Allgäus gibt es unter anderem eine sehr, sehr alte Eibe, etwa 300 Einwohner, 1100 Gästebetten, den katholischen Radiosender Radio Horeb und eine 30-Kilometer-Langlaufspur mit dem etwas sperrigen Namen Allgäuer-Latschenkiefer-Grenzlandloipe. Läuft man diese Allgäuer-Latschenkiefer-Grenzlandloipe gen Osten, wird man irgendwann durch die Anhöhe des Riedbergpasses eingebremst. Läuft man nach Westen, kommt sehr bald nichts, dann die Landesgrenze, und bald wieder nichts, ein verdammt schönes Nichts allerdings.
Reisebuch "Jours Blancs":Blick ins weiße Nichts
Bei besonderem Licht werden schneebedeckte Pisten und der wolkenverhangene Himmel eins in den winterlichen Alpen. Diese Stimmung nutzt der Fotograf François Schaer für irritierende Aufnahmen des Skitourismus.
Interessant ist sogar, was es in Balderschwang nicht gibt. Balderschwang hat weder das größte Skigebiet, noch die steilsten Pisten und erst recht nicht den lautesten Ortskern. Es gibt keine Bar mit überdrehten Niederländern und keine Modegeschäfte, zumindest keine, in denen dicke Uhren und sündteure Handtaschen verkauft werden. Wer nachts um zehn auf die Straße tappt, fühlt sich in einen dieser dystopischen Filme versetzt, in denen die Menschheit die beste Zeit hinter sich hat. Die Berge sind so weit von der Zweitausend-Meter-Marke entfernt wie das kleine Skigebiet von dem Begriff "topmodern". Zwei Sessellifte, acht Schlepplifte, 30 Pistenkilometer, ein Drittel davon beschneibar.
Dorf der kurzen Wege
Die Menschen kommen trotzdem. Für das Winterhalbjahr 2013/14 weist Balderschwang laut Statistischem Landesamt bei den Übernachtungen ein Plus von 5,5 Prozent aus, während die Zahlen in Bayern um zehn Prozent nach unten gingen. Die Bettenauslastung war dabei mit Abstand die höchste im gesamten Allgäu. Weil sich die knapp 40 000 Gäste pro Jahr nicht nur gut in der Umgebung verteilen, sondern auch zu beinahe gleichen Anteilen auf Sommer und Winter, sprechen Touristiker wie Bernhard Joachim, der Geschäftsführer der Allgäu Marketing GmbH, von einem "idealen Saisonverhältnis". Und auch wenn Statistiken viel Spielraum für Interpretationen lassen, stellt sich die Frage: Warum läuft der Tourismus bei Ihnen ganz ohne Superlativ, Herr Kienle?
Konrad Kienle ist Bürgermeister und Chef des Hotels Adlerkönig im Dorfzentrum. Er sagt Sätze, wie sie ein Bürgermeister sagen muss: "Wir haben ein kleines, aber feines Angebot." Oder "Wir haben alles in einer Talschaft. Loipen. Pisten. Winderwanderwege." Seine typischen Gäste im Hotel? "Eine Mischung, aber im Grunde die bodenständige Familie aus Baden-Württemberg." Klar, die Tageskarte im Skigebiet kostet 28 Euro; vom ADAC wurde Balderschwang im vergangenen Jahr deshalb in puncto Preis-Leistungs-Verhältnis als bestes deutsches Skigebiet ausgezeichnet. Die geringen Wartezeiten am Morgen, viel Platz auf den Pisten und die kostenfreien Parkplätze an der Talstation fielen dabei besonders positiv auf. In einem anderen Test gab es das Label "Top für Familien" für das Skigebiet. Es ist vom Ort fußläufig zu erreichen, die Loipe beginnt häufig direkt vor dem Haus. Es ist ein Dorf der kurzen Wege.
Natürlich weiß Kienle, dass ihm die Natur bislang den Zwang zu großen Visionen abgenommen hat. Das Wetter kommt aus der gleichen Richtung wie die meisten Siedler vor einigen Jahrhunderten: von Westen, dort, wo sich das Tal öffnet. Trotz der allgäutypisch hohen Anzahl Sonnenstunden werden in Balderschwang über das Jahr verteilt 2500 Millimeter Niederschlag gemessen; in Hamburg sind es nicht einmal ein Drittel davon.
Im Winter bedeutet das bis zu acht Meter Neuschnee, auch wenn davon bisher nicht viel zu sehen ist. Dem Tal hat das den Beinamen "Bayerisch Sibirien" eingebracht. Ähnlich passend wäre es, den Breisgau als die deutschen Tropen zu bezeichnen, nur weil es dort ein bisschen wärmer ist als im Rest der Republik.
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Wahrscheinlich lässt sich der Wintertourismus aber ohnehin nicht in Zahlen und wissenschaftlichen Erkenntnissen messen. Es ist mehr ein Gefühl, das man für einen Ort entwickelt. Das beginnt bei der kurzen Skitour auf das Riedberger Horn mit einem Wildbiologen wie Henning Werth. Werth hat viel eher balzende Birkhühner, streitende Steinadler und das Paarungsverhalten des Alpenmolchs im Kopf als Strategien der Hoteliers unten im Tal. Das Gefühl verstärkt sich bei dem Gespräch mit Kienle, der zur Strategie der Hoteliers im Tal sagt: "Wir kommen uns überhaupt nicht in die Quere. Da hat jeder sein eigenes Thema." Er selbst biete Platz für Familien, das Hotel Ifenblick dafür jede Menge Bio und Ausgeglichenheit, das Hotel Hubertus gehobene Wellness.
Statt des Ferienrummels brauchen viele Menschen im Winterurlaub heute offenbar das Gefühl, alle Optionen - vom Bio- bis zum Birkhuhn - zur perfekten Entspannung haben zu können, selbst wenn sie nicht alle nutzen. Wer etwas von diesem Gefühl erfahren will, sollte das Hotel Hubertus besuchen. Gemeinsam mit der Kirche und dem Adlerkönig bildet es den Ortskern. An der Rezeption hängen einige Preise, die natürlich alle Awards heißen. Es gibt viel Holz, darauf Schaffell und darüber Hirschgeweihe. Außerdem: viele Herzen. Selbst wer das alles einigermaßen kitschig findet, muss eingestehen, dass sie hier einiges richtig machen. Marc Traubel, der joviale Juniorchef des Hauses, sagt: "Früher war Balderschwang Strafposten für Pfarrer, Lehrer und Zöllner."
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Traubels Großvater kaufte das Haus 1951, schon zehn Jahre vor dem Bau der Riedbergpassstraße und des ersten Schlepplifts. Traubels Vater Karl prägte den Satz: "Das Hubertus ist Hütte geblieben. Nur seine Hülle hat sich verwandelt." Seit dem Umbau vor fünf Jahren hat sich die Hütte samt Hülle von ihrer Umgebung emanzipiert. Es gibt fünf Saunen, den Sonnengruß mit Sammi, Salsa mit Lena, Räuchern mit heimischen Kräutern. Die meisten von Traubels Gästen fahren nicht Ski, aber der Winter und der Schnee seien schon wichtig: "Unsere Gäste brauchen den Schnee für die Psyche. Und ich brauche die Natur außenrum."
Was es sonst noch braucht? Kienle, der Bürgermeister, möchte möglichst bald mehr Beschneiungsanlagen: "Der Beschneiungsgrad ist inzwischen ein Entscheidungsgrund für den Gast." Traubel, der Hotelier, sagt: "Wir konkurrieren mit Damüls, Lech, St. Anton. Und die haben moderne Anlagen."
Am Morgen sind 30 Zentimeter Neuschnee auf den durchweichten Untergrund gefallen, und es schneit weiter. Am Loipeneinstieg steht eine Frau mit Langlauf-Skiern und fragt: "Ist denn heute nicht gespurt? Das ist doch ein Skigebiet!"