Mal angenommen, Sie sitzen gemütlich am Fenster. Lesen womöglich oder denken über den gestrigen Abend nach. Plötzlich plumpst ein Fremder in den Sessel neben Ihnen. Seine Begleitung führt nahtlos eine Geschichte zu Ende, in der es, so reimen Sie sich schnell zusammen, um das Chaos im Leben einer Frau namens "die Marie" geht. "Die Marie" arbeitet leider in einer Firma voller Idioten und Intriganten, kaum zu glauben, dass ihr Chef neulich tatsächlich... Stopp. Das wollten Sie niemals wissen? Sie finden, das geht Sie nichts an, schließlich kennen Sie "die Marie" gar nicht?
Pech gehabt. Oder vielmehr Glück. Denn eigentlich kann Ihnen doch nichts Besseres passieren. Selbst wenn sich Ihr Sitz vorübergehend wie ein Sessel angefühlt hat - Sie sind nicht daheim. Sie fahren Bahn. Und werden gleich mehr über Maries Karrieredebakel wissen als über manch eigenen Kollegen. Ganz zu schweigen von den Weisheiten der Hobby-Machiavellis neben Ihnen. Sich davon nerven zu lassen, wäre aber ein Fehler.
Party, Scheidung, Bart, Prost!
Kaum irgendwo verschwimmen die Grenzen zwischen privat und öffentlich so wie in den Abteilen und Großraumwagen von Zügen. Selbst im Wartezimmer oder in der Supermarktschlange sind Menschen eher nach Wohngegend und Milieu vorsortiert. Bei Großereignissen wie Volksfesten bleiben alle in Bewegung, Aufzüge bringen Fremde nur für Augenblicke zusammen.
Aber dieses stundenlange Zusammenhocken auf engstem Raum, ohne eine Geräuschkulisse, die jedes Gespräch überdröhnt? Unvergleichlich. Ganz zu schweigen von der erzwungenen Intimität eines Nachtzugabteils. Noch dazu: Im Zug sitzen sich Fremde oft von Angesicht zu Angesicht gegenüber, anstatt wie im Flugzeug oder Fernbus nebeneinander aufgereiht. Wer da nicht ins Gespräch kommt oder Freude am Zuhören und -sehen entdeckt, sollte seinen Puls ertasten: Ist die Neugier aufs Leben schon erstickt?
Vermeidungsstrategien wie Kopfhörer oder der starre Blick auf Papier oder Bildschirm töten so manchen Kontakt im Keim. Aber wer regelmäßig Bahn fährt anstatt sich im Auto abzukapseln, bekommt durchaus mit, wie eine Frau am Handy ihre Scheidung organisiert, ein kleiner Mensch von großen Abenteuern im Kindergarten erzählt ("Da gibt's eine Party, Mama, eine richtige Party!"), sich ein Student über seinen Horrormitbewohner auskotzt, rüstige Rentnerinnen auf Ausflug den Montagmorgen mit einer Runde Piccolo begrüßen, ein alter Herr die schönsten Bleistiftbilder zeichnet oder ein bärtiger Teenie das Barbierhandwerk lobpreist.
Klar, Lauschen ist sonst nicht die feine Art. Aber wer unterwegs redet, weiß, dass er nicht allein ist. Und während draußen die Zweifel nagen, ob nicht jeder von uns in seiner "Blase" am Rest vorbeilebt und keine Ahnung von den Anderen hat, gerät im Mikrokosmos Bahnwaggon alles munter durcheinander. Allein in Deutschland sind das mehrere Millionen Passagiere pro Tag. Der britische Soziologe John Clammer berichtet sogar von Bekannten in Tokio, die die berüchtigte Rush hour mögen, weil sie nur in überfüllten Zügen die Nähe und den Körperkontakt finden, die ihnen im japanischen Alltag sonst fehlen. Auch hierzulande bereichern spontane Aktionen wie ein Ständchen für einen Fremden, gesungen von Passagieren und Schaffnern.
Was bleibt Ihnen unvergesslich?
Dieses Zusammengeworfensein hat unzählige Szenen in Filmen und Romanen inspiriert - Mordgeschichten bei Agatha Christie, Hitchcock oder "Girl on the Train", Liebe auf den ersten Blick in "Before Sunrise", spektakuläre Irrfahrten wie bei "Slumdog Millionaire".
Auch wenn's in Wirklichkeit meistens ein paar Nummern kleiner zugeht: Warum nicht einfach Bahnfahrten als Kino in echt begreifen? Dann kann man sich darüber freuen, ganz nebenbei in ein paar Leben schauen zu dürfen, daraus lernen oder zumindest staunen. Zum Beispiel, wenn nebenan der Satz fällt: "Ist doch viel zu öde, wenn der einfach erstochen wird..." Wie bitte!? Ach so, nur zwei Autoren, die über ihr Drehbuch diskutieren. Welche Begegnung oder Beobachtung im Zug bleibt Ihnen unvergesslich?