Bahnländer Schweiz, Frankreich und Großbritannien:Ferrosexuelle Hochgefühle

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Andere Länder, andere Bahnen: Deutschland hat ein gespaltenes Verhältnis zur Bahn - aber wie sieht es in den übrigen großen Bahnnationen Europas aus? SZ-Korrespondenten berichten von Zügen, die den Anspruch einer Nation verkörpern - und maroden Schienen, die Menschenleben gefährden.

Wolfgang Koydl, Zürich, Stefan Ulrich, Paris und Christian Zaschke, London

Schweiz: Schön, schnell, ferrosexuell

Spektakuläre Trassen - und auch noch pünktlich: die Schweizer Eisenbahn. (Foto: dpa-tmn)

Oft täuscht der erste Eindruck. Denn entgegen gängigen Vorstellungen können die vermeintlich so dickblütigen Schweizer mitunter doch in Wallung geraten. Erstaunlich ist nur das Objekt ihrer Leidenschaft: Es sind oft Schienenfahrzeuge, die ihren Puls schneller schlagen lassen, egal ob Tram, Bergbahn oder Intercity. Psychoanalytisch veranlagte Spötter haben dafür den Begriff "ferrosexuell" geprägt.

Im Vergleich zum Rest Europas erwärmten sich die Schweizer im 19. Jahrhundert verhältnismäßig spät für die neuartigen Stahlrösser. Doch sobald sie sich von deren Vorzügen überzeugt hatten, gab es kein Halten. Schweizer Ingenieurskunst schlug Gleise, wo früher nur Bergziegen anzutreffen waren. Schienen führten durch Tunnels und über Viadukte und verbanden erstmals das von Dreitausendern und tiefen Tälern zerklüftete Land. Ob Albula-Bahn oder Glacier-Express - einige der weltschönsten und atemberaubendsten Bahnstrecken verlaufen durch die Eidgenossenschaft.

Wirklich stolz sind die Schweizer aber neben der Sauberkeit auf die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit ihrer Züge. Wenn man zuvor in Großbritannien gelebt hat, könnte der Kontrast nicht deutlicher ausfallen. Auf der Insel haben Fahrplanzeiten eine ähnlich zuverlässige Trefferquote wie Sechser im Lotto.

In der Schweiz hingegen kann man nach vorüberfahrenden Zügen seine Uhr stellen - vorausgesetzt, man hat keine Schweizer Uhr, die bekanntlich nie gestellt werden muss. Donnert die S-Bahn von links nach rechts durchs Dorf, dann ist es entweder 20 nach der vollen Stunde oder zehn Minuten vor. Denn das sind die präzise getakteten Abfahrtszeiten.

In einem derart festen Rhythmus bewegt sich das ganze Land - zwischen Genf und St. Gallen ebenso wie zischen Zürich-Oerlikon und Zürich-Stadelhofen. Verspätungen von einer Minute werden mit vorwurfsvoll hochgezogenen Augenbrauen registriert. Dauert es länger als zwei Minuten, ergießen sich voluminöse Entschuldigungen aus den Bahnsteig-Lautsprechern.

Sollte er gar fünf Minuten warten müssen, befürchtet der Bahnkunde das Schlimmste: Naturkatastrophen vom Kaliber eines Meteoriteneinschlages oder den Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Es stimmt ja auch: Nur solche Desaster können die Schweizer Bahn aus dem Takt bringen.

Eines der beliebtesten Gesprächsthemen der Franzosen ist le déclin, der Niedergang der Nation. Die Umgangsformen und der Zusammenhalt, die Baguettes und das Wetter, alles werde schlechter, klagen sie. In diesen Krisenzeiten hadern sie besonders über ihr Land, das reformunfähig sei und von den Chinesen abgehängt werde.

"C`est formidable": Im TGV arbeitet auch Präsident Nicolas Sarkozy. (Foto: REUTERS)

Wer seine französischen Freunde von solch trüben Gedanken abbringen will, muss das Zauberwort mit den drei Buchstaben aussprechen: TGV. Schlagartig werden sich die Gesichter aufhellen. Garantiert.

"Oh! Le TGV!", werden die Freunde rufen. "C`est formidable", "der ist toll", beziehungsweise "super sympa". Dann kommt unweigerlich die Bemerkung, mit dem TGV gelange man in drei Stunden von Paris nach Marseille, ans Mittelmeer. "Das schaffst Du mit dem Auto oder mit dem Flugzeug nie."

Der TGV (Train à grande vitesse, Hochgeschwindigkeitszug), ist kein bloßes Verkehrsmittel, sondern Demonstration französischer Exzellenz. Der Zug verkörpert den Anspruch der Nation, international vorne weg zu fahren. Im Sessel zurückgelehnt, mit 300 Stundenkilometern durchs Rhone-Tal brausend, ist der Franzose einmal vorbehaltlos stolz auf sein Land. Und das mit Recht.

Bereits in den Sechzigern, als Deutschland ganz aufs Flugzeug und Auto setzte, bastelten die Franzosen an einem Hochgeschwindigkeitsnetz. 1981 weihte François Mitterrand - ein Eisenbahner-Sohn - die erste Line von Paris nach Dijon ein. Heute lassen sich viele Teile des Landes mit den pfeilschnellen Zügen erreichen. Dank allerlei Sonder-Tarifen sind die Fahrpreise erschwinglich. So nutzen die Pariser den TGV gern, um schnell mal ein Wochenende in der Provence zu genießen.

Sekundengenaue Pünktlichkeit erwarten sie dabei nicht. Wie alles andere in Frankreich werden auch die TGV's gern bestreikt, und wenn es schneit, kommt es ohnehin zu Problemen. Anders als die Pariser Metro - über die alle immer schimpfen - werden den eleganten Schienenflitzern Verspätungen und andere Zwischenfälle aber kaum krumm genommen.

Diesen Januar entwich im TGV Paris-Marseille eine Boa Constrictor aus ihrem Käfig. Sie schlängelte sich zwischen den Füßen der Fahrgäste hindurch und wurde schließlich in einem Heizungsschacht gestellt. Bahnfahren in Frankreich ist eben noch ein Erlebnis!

Die britische Eisenbahn hat einen legendär schlechten Ruf. Den hat sie sich insbesondere nach der Privatisierung im Jahr 1993 redlich erarbeitet. Tiefpunkt war ein Unfall im Jahr 2000: Bei Hatfield entgleiste ein Zug, vier Menschen starben. Unfallursache waren marode Gleise.

Weil damals zu recht Befürchtungen bestanden, an verschiedensten Stellen im gesamten Netz könnten ähnlich marode Gleise liegen, wurden 1200 Tempolimits verhängt. Mehr als ein Jahr lang kam es in der Folge zu Verspätungen und Ausfällen im Zugverkehr.

Mittlerweile hat sich die Lage normalisiert, die Zahl der Bahnkunden steigt seit Jahren. Es gilt jedoch als unklar, ob das an der Privatisierung liegt oder daran, dass zum Beispiel Benzin so teuer geworden ist.

Eine jüngst veröffentlichte Studie des Thinktanks "Just Economics" stellt der britischen Bahn dennoch kein gutes Zeugnis aus. Im europäischen Vergleich schneide Großbritanniens Zugverkehr bei Preisen, Effizienz und Komfort am schlechtesten ab.

Tatsächlich sind Zugtickets im Land im Schnitt 30 Prozent teurer als in Frankreich, den Niederlanden, Schweden oder der Schweiz - die Betriebskosten liegen sogar um 40 Prozent höher als in den genannten Ländern. Lediglich in einem Punkt ist Großbritannien besser als die Konkurrenz: Die Züge fahren öfter.

Allerdings könnte sich auch das ändern. Im März 2013 hat die Regierung Pläne vorgestellt, wie sie bis 2019 rund 3,5 Milliarden Pfund pro Jahr sparen könnte. Trotz Privatisierung wird der Zugverkehr immer noch staatlich subventioniert. Sparen könnte unter anderem heißen: weniger Mitarbeiter, weniger Ticketschalter, weniger Züge.

Dafür ist eine neue, superschnelle Verbindung von London nach Birmingham geplant, die mittelfristig bis Manchester und Leeds ausgebaut werden soll. Die Züge auf dieser Verbindung, so ist der Plan, könnten so schnell fahren wie heute der französische TGV.

Allerdings müssen sich die Pendler noch ein wenig gedulden: Das Teilstück von London nach Birmingham soll 2026 fertig sein. Bis 2033 könnte dann der Anschluss nach Manchester und Leeds geschafft sein.

Visionäre denken bereits daran, wie anschließend auch Edinburgh und Glasgow ans High-Speed-Netz angeschlossen werden könnten. Das allerdings wird wohl erst die nächste Generation treuer Bahnkunden erleben.

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