Eine Umkleide in Japan und zwei Männer, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Der eine sitzt auf der Holzbank und zieht seine ausgelatschten Schuhe aus. Es kommen vergilbte Socken zum Vorschein, die er zusammen mit seiner ausgebeulten Hose und dem T-Shirt behutsam in einen Plastikkorb legt. Er ist noch recht jung, Mitte 20 vielleicht, sein langes, schwarzes Haar hängt ihm ins Gesicht. Daneben ein älterer Herr mit grauem Haar und akkuraten Scheitel. Der Nadelstreifenanzug hängt bereits im Spind, gerade nestelt er an seinen Manschettenknöpfen herum. Die beiden Männer kennen sich nicht, und sie lassen sich mit dem Umziehen viel Zeit.
Als ob sie mit ihrer Kleidung auch gleich Scheu und Vorbehalte abgelegt hätten, beginnen die zuvor so schweigsamen Männer miteinander zu reden. Nicht lange, sie wechseln nur ein paar Worte. Gemeinsam gehen sie zum Duschbereich, der durch einen Vorhang von der Umkleidekabine getrennt ist. Der Mann, der eben noch den Anzug trug, zieht den Vorhang zurück und wartet, bis der andere durchgegangen ist. Der Alte lässt dem Jungen den Vortritt. An jedem anderen Ort in Japan gilt stets Alter vor Jugend und nicht umgekehrt.
Die beiden Männer hätten sich auch voreinander verbeugt. Hier aber, im Funaoka Onsen in Kyoto, einem der zahlreichen öffentlichen Bäder des Landes, gelten diese ritualisierten Umgangsformen nicht, die so kennzeichnend sind für die hierarchisch strukturierte Gesellschaft Japans. Wenn Tagelöhner und Vorstandsvorsitzende gemeinsam im heißen Becken sitzen, dann weiß niemand, wer sich draußen in der kalten Realität tiefer zu verbeugen hätte und länger in dieser Position verharren müsste.
Die japanischen Onsen sind dafür bekannt, dass sie die sozialen Unterschiede in der Bevölkerung zumindest für den Zeitraum des Aufenthalts nivellieren. Nackt sind eben doch alle gleicher.
Im Funaoka Onsen ist das nicht anders. Nach Feierabend ist das Bad gut besucht. Am Heißwasserbecken, wo aus Sitzwannen Massagestrahlen schießen, hat sich eine kleine Schlange gebildet. Die Männer warten, bis sie an der Reihe sind. Vorrechte für bestimmte Altersgruppen oder gesellschaftlich höher Gestellte gibt es hier nicht. Jeder bekommt etwa fünf Minuten, dann ist der nächste dran.
Das Funaoka Onsen ist eines der ältesten Bäder Kyotos und liegt versteckt zwischen verwitterten Zweckbauten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Links und rechts neben dem Eingang stehen große Felsbrocken, darüber weist ein rotes Banner mit schwarzen Lettern in japanischer Schrift auf die Einrichtung hin. Die Buchstaben sind riesig und bereits von weitem zu erkennen. Aber was heißt das für einen Ausländer schon.
Onsen jedenfalls, das lernt man schnell, bedeutet wörtlich übersetzt "heiße Quelle". Gebadet wird zwar überall auf der Welt, aber kaum irgendwo so ausgiebig und stilvoll wie in Japan. Das vom Vulkanismus geprägte Land besitzt unzählige heiße Quellen. Das mineral- und schwefelhaltige Wasser quillt quasi aus jeder Pore, egal ob an der Küste im kalten Norden des Landes, in Tokio oder hoch oben in den japanischen Alpen. Es gibt mehr als 3000 Onsen im ganzen Land.
Die heißen Quellen haben nie Pause, und auch viele Onsen sind bis drei Uhr morgens geöffnet, bei fast konkurrenzlos niedrigen Preisen. Vier bis sieben Euro kostet der Eintritt im Schnitt. Oftmals ist er sogar kostenlos. Einen Onsen-Besuch kann sich jeder leisten. Doch trotz all der Gleichstellung und Einebnung sozialer Unterschiede ist der Besuch in einem Onsen stark reglementiert. Es gibt so viele Vorschriften zu beachten, dass man fast nicht anders kann, als sich zu blamieren - vor allem als Gaijin, als Ausländer.
Im Eingangsbereich des Funaoka Onsen - wie in allen anderen öffentlichen Bädern auch - wartet das erste Fettnäpfchen schon in Form einer hölzernen Stufe. Als gewissenhafter Tourist hat man vor Antritt der Reise ja viel gelesen. Dass sich die Japaner immer, aber auch wirklich immer, die Schuhe ausziehen und sie gegen Pantoffeln eintauschen, wenn sie Wohnungen betreten. Als Europäer vergisst man diese eherne Regel aber häufig.
Einem Engländer im Funaoka Onsen jedenfalls scheint sie erst in letzter Sekunde wieder einzufallen, als der Schritt über die Schwelle schon gemacht ist. Im Reflex zieht er den Fuß zurück und fällt nach vorne. Lieber auf der Nase landen, als sich in den ersten zwei Minuten seines Onsen-Aufenthalts zu blamieren.
Nachdem die Schuhe in einem kleinen Schließfach verstaut sind, warte ich auf andere Gäste, weil ich nicht weiß, welcher der beiden Umkleidebereiche der richtige für Männer ist. Als sich auch nach zehn Minuten nichts tut, schaue ich vorsichtig hinter den blauen der beiden Vorhänge. Das Kreischen aufgeschreckter Japanerinnen bleibt aus. Glück gehabt.
Im Duschbereich wäscht sich einer die Hände, als hätte er die Schuld der ganzen Welt auf sich geladen.
Ausgiebig schrubbt er seine Finger mit Seife. Dann den Rest des Körpers. Wer sieht, wie penibel sich Japaner vor dem Eintauchen in öffentliches Badewasser reinigen, kann nur zu dem Schluss kommen, dass Europäer ausgemachte Schmutzfinken sind. Das Ganze geschieht übrigens gut sichtbar für die anderen Badegäste, damit jeder sehen kann, dass hier gleich ein sauberer Mann ins Wasser steigt.
In der großen Wanne aus Eichenholz, die sich im Innenhof unter freiem Himmel befindet, legt sich die Anspannung. Ich schließe die Augen und lausche dem leisen Gemurmel der Japaner. Der Dampf von heißem Wasser steigt in den kalten Nachthimmel, und ich möchte eigentlich gar nicht mehr raus. Denn das ist sicheres Terrain hier. Einfach nur sitzen und genießen. Da gibt es nicht viel falsch zu machen.
Wohl aber gibt es noch offene Fragen. Wohin zum Beispiel mit dem waschlappengroßen Badetuch, das jeder Besucher zu Beginn in die Hand gedrückt bekommt? Ins Onsenwasser tauchen und sich dann damit den Schweiß von der Stirn wischen? Lieber nicht. Der Lappen dient ausschließlich dazu, beim Wechsel vom einen Becken ins andere den Schambereich zu bedecken. Die restliche Zeit legt man sich das Tuch am besten auf den Kopf.
Die kleine Sauna des Funaoka Onsen ist voll. An der Wand hängt ein Fernseher. Die Nachrichtensprecherin ist kaum zu erkennen, weil der Bildschirm beschlägt. Dennoch schauen alle hin. "Woher kommen Sie", fragt plötzlich einer auf Englisch. Aus Deutschland? "Wie gefällt es Ihnen in Japan?", fährt der Mann auf Deutsch fort. Dann erzählt er, dass er für den größten Reißverschlusshersteller der Welt arbeite.
Acht Jahre habe er in Marburg gelebt. "Alle meine drei Kinder: made in Germany", sagt er stolz. Geboren und aufgewachsen sei er aber hier in Kyoto. Er lacht, als ich ihm von den Ängsten des Europäers im Onsen erzähle und sagt, bei ihm sei es genau anders herum: "Für die paar Tage hier wohne ich bei meinen Eltern. Ich bade aber lieber im Onsen als zu Hause."