Ausstellung "Migropolis":Das wahre Gesicht von Venedig

Touristen strömen aus Kreuzfahrtschiffen und treffen mehr fliegende Händler als Einwohner - eine Ausstellung blickt hinter Venedigs Fassade.

Thomas Steinfeld

Als John Ruskin, der englische Schriftsteller und Kunsthistoriker, im Jahr 1851 seine Gedanken und Beobachtungen zu Venedig in dem monumentalen Werk "The Stones of Venice" zusammenfasste, war es vor allem ein Gedanke, der seine Zeitgenossen erregte: dass er der byzantinischen und gotischen Kunst den deutlichen Vorzug gab vor der Architektur der Renaissance.

Diese stehe für Konvention und Symmetrie, erklärte er, jene aber für Kraft, Treue und Spiritualität. Selbstverständlich war ihm nicht entgangen, wie scheinhaft diese Kunst und Technik war: Allenfalls zehn Zentimeter dick sind die marmornen Fassaden, eine Hülle nur, und dahinter verbirgt sich das Profane, das Rohe und Unbehauene.

Was eine Gesellschaft ist und wie sie mit sich selber umgeht, das ist, so John Ruskin, an diesen Fassaden zu erkennen: Sie sind entstanden, weil sich gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts in Venedig eine Oligarchie des Erbadels durchsetzte, die den größten Teil der Bevölkerung von aller Politik ausschloss und alle Macht, allen Glanz und allen Ruhm auf sich vereinigte - und sich selbst in ebenso gewaltigen wie trügerischen Ornamenten manifestierte.

John Ruskin war der erste Gelehrte, der auf den Gedanken kam, eine Stadt daraufhin zu lesen, welche Gesellschaft in ihren Bauten, in ihren Straßen und in ihren Plätzen Gestalt annahm. Andere taten es ihm nach, auch in Hinblick auf Venedig.

So der Philosoph Georg Simmel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, der in Venedig "nur ein entseeltes Bühnenbild, nur die lügenhafte Schönheit des Maske" erkannte.

Doch dann verlor sich der Gedanke, und je mehr Jahre dahingingen, und je mehr Venedig zu einem der größten Anziehungspunkte des internationalen Tourismus wurde, desto mehr verselbständigte sich die Fassade: zum lebendigen Denkmal einer einzigartigen geschichtlichen Konstellation, das in einem Umfang erhalten ist wie sonst kein historisches Relikt auf der Welt.

Der deutsche Philosoph, Kurator und Kreativdirektor Wolfgang Scheppe, der an der Universität für Architektur in Venedig (IUAV) lehrt, legt nun ein Buch vor, das sich nicht nur vom Umfang her mit John Ruskins "Stones of Venice" messen kann.

Zusammen mit Assistenten und Studenten aus seinem "Seminar für die Politik der Repräsentation" hat er über drei Jahre hinweg eine Dokumentation geschaffen, in der, so scheint es, fast alle kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bewegungen der Stadt fixiert sind, in Tausenden von Fotografien, in Essays und Interviews, Statistiken, Bewegungsprofilen, Schaubildern und Diagrammen.

"Migropolis" heißt das Buch, und es trägt seinen Untertitel zurecht: "Venice - Atlas of a Global Situation" (Hatje/Cantz Verlag, Ostfildern 2009. 1344 Seiten, 68 Euro). Denn es ist genau dies: ein Atlas der Globalisierung, der eine weltweit bekannte Stadt neu kartiert.

John Ruskin hatte für "The Stones of Venice" achthundert Kirchen besucht, um ihren Bau und ihre Kunst minutiös festzuhalten. Wolfgang Scheppe und seine Mitarbeiter taten Ähnliches für das zeitgenössische Venedig. Und hervor tritt keine Kunstgeschichte, sondern das aktuelle Bild einer Stadt, die im wahrsten Sinne des Wortes global ist, durch die sich, gleichsam in unzähligen Kanälen, die Geld-, Macht- und Menschenströme des gegenwärtigen Weltzustands ziehen, in Gestalt der imitierten Damentaschen von Louis Vuitton, der moldawischen Putzfrau, des chinesischen Touristen und des illegalen Einwanderers aus dem Senegal.

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