Süddeutsche Zeitung

Ausgehen in Rio de Janeiro:Tanzen heißt hoffen

Vom klassischen Tanzsalon über den Live-Samba im Hinterhof bis hin zu den Elektroclubs an der Copa Cabana: Das Nachtleben hat Rios Viertel verändert.

Von Konstantin Kaip

Im Beco do Rato braucht ein gelungener Abend nicht viel: eiskaltes Bier und guten Samba. Das Bier kommt aus 600-Milliliter-Flaschen, die in Plastikeimern mit Eis gebracht werden, und der Samba kommt von der Gruppe Arruda. Es ist Freitagabend in einem Hinterhof, der mit gestapelten Bierkisten von der Rua Joaquim Barbosa abgetrennt ist. An ein paar Holztischen sitzen ältere Ehepaare neben Gruppen junger Frauen und Männer. Der überwiegende Teil des Publikums aber ist auf den Beinen und tanzt.

Beco do Rato heißt übersetzt so viel wie Rattengasse, ein humorvoller Verweis auf die düstere, heruntergekommene Nachbarschaft im Stadtviertel Lapa. An den Hauswänden bröckelt der Putz, einen Block weiter warten Prostituierte auf Kundschaft. Die Horden ausgehfreudiger Cariocas und Touristen lassen die Gegend meist links liegen und bevölkern stattdessen die Straßen auf der anderen Seite der Arcos, der Bögen des Aquädukts. Am schönsten herausgeputzt ist die Lapa am Ende der Rua do Lavradio, wo die blauweiß gekachelten Fassaden sorgsam renovierter Kolonialhäuser eine Fußgängerzone säumen.

Porzellanpuppen und Apothekenregale

Das ist auch der Verdienst von Plínio Froes, der in den 1990er-Jahren dort einen Antiquitätenladen erwarb und mit einem monatlichen Straßenmarkt ein neues Publikum in die Gegend lockte. Aus dem Laden wurde das Rio Scenarium, der heute wohl bekannteste Club im Viertel, der der ganzen Umgebung ihren Aufschwung bescherte. In dem dreistöckigen ehemaligen Warenhaus gibt es an Wochenenden Livemusik im Erdgeschoss und DJs in der obersten Etage.

Aufmerksamkeit erregt aber vor allem die Einrichtung: Die Gäste sitzen auf antiken Möbeln, die Wände zieren Gemälde, Reklametafeln, alte Fahrräder und Musikinstrumente. Zwischen den Tresen der zahlreichen Bars stehen Vitrinen mit Porzellanpuppen oder komplette Apothekenregale aus dem 19. Jahrhundert. 2006 hat der Guardian das Lokal in die Liste der zehn besten Bars der Welt aufgenommen. Die kilometerlange Schlange, die sich gegen Mitternacht vor der Tür bildet, ist für viele ambulante Händler, die den Wartenden Bier und Zigaretten anbieten, längst zur festen Einnahmequelle geworden.

Ins Beco do Rato hingegen kommt ein kleineres, einheimisches Publikum, das die informelle Atmosphäre und den moderaten Eintrittspreis (circa fünf Euro) zu schätzen weiß - und den Samba liebt. Es ist der alte, ursprüngliche Samba do Raíz von Komponisten wie Pixinguinha und Cartola, der hier gepflegt wird. Sieben Musiker sitzen um einen langen Holztisch, fünf davon Perkussionisten. Die Sängerin Maria Meliza ist eine junge Frau mit einer alten Stimme, alt genug für die Lieder, die sie mit der nötigen lebensweisen Melancholie singt. Der Betreiber des Clubs, Márcio Pacheco, ist ein schlaksiger Herr, der eigentlich Klimaanlagen verkauft. Aber in seinen Venen, sagt er, fließe eben der Samba. Das Beco do Rato sei eine Herzenssache: "Kulturpflege für das Volk."

In beeindruckender Dichte reihen sich Bars, Hotels, Diskotheken und Straßenschenken in der Lapa aneinander. Wie der Alltag in Rio ist auch das Nachtleben, das sich in dem Viertel bündelt, geprägt von den Gegensätzen zwischen Armut und Reichtum, Schönheit und Verfall. Noch in den 1990er-Jahren galt die Lapa für viele Bewohner der Südzone als No-go-Area: zu dunkel, zu gefährlich. Bis Samba-Clubs wie das Carioca da Gema in der Rua Mem de Sá hochklassigen Musikern eine Bühne in gediegenem Ambiente gaben und so um die Jahrtausendwende den Geist des Rio Antigo wiederbelebten.

Zu den Institutionen, die das Auf und Ab überdauert haben, zählt die Nova Capela gleich gegenüber, eines der ältesten noch bestehenden Restaurants. Dort gibt es weder Freischankfläche noch Musik, dafür aber die typischen Kacheln an den Wänden und weiß livrierte Kellner. Das Cabrito, das sie servieren - gebratenes Zicklein mit Brokkolireis und Kartoffeln - ist berühmt und mit etwa 30 Euro nicht gerade günstig. Allerdings reicht die Portion für zwei, und das Fleisch ist so zart, dass man es mühelos mit der Gabel zerteilen kann.

Funk aus den Armenvierteln

Gefeiert wird natürlich auch in der Südzone von Rio. Was innovative elektronische Musik betrifft, steht das Nachtleben dort zwar im Schatten der Nachbarstadt São Paulo. Es gibt aber Optionen. Zum Beispiel die Fosfobox in Copacabana. Der Kellerclub in der Nähe der Metrostation Siqueira Campos mit seiner Mischung aus Elektro, Hip-Hop und Indierock würde auch in München oder New York gut laufen. Nicht weit entfernt, an der Grenze zum Strandabschnitt Arpoador, bietet das Cave etwas mehr Platz zum Tanzen. Hier lädt unter anderem Leo Justi zum "Heavy Baile": Der 26-jährige DJ aus Rio, der gerade mit einem Remix für M.I.A. bekannt wurde, bringt dort zusammen mit MC Tchelo aus der Favela Cruzada São Sebastião einem jungen Publikum aus der Mittelschicht den Funk der Armenviertel nahe, den er mit wuchtigen Bässen unterlegt.

Egal, wohin es sie später verschlägt - seinen Anfang nimmt der Abend für die Cariocas oft in den Botequims. In den kleinen, meist zur Straße offenen Bars trinken sie Bier vom Fass und essen dazu gehaltvolles Fingerfood, das den Durst aufrechterhält und gleichzeitig eine Grundlage schafft. Im Jobi in Leblon konkurrieren seit 1956 Strandheimkehrer und aufbrechende Nachtschwärmer um die viel zu wenigen Tische auf dem schwarz-weiß gepflasterten Gehsteig. Wer dort einmal ein Sanduíche de perníl, ein Sandwich mit Schweinshaxenscheiben, gegessen hat, weiß warum.

Das studentische Publikum bevorzugt das Braseiro da Gávea, eine Bar mit offenem Holzkohlegrill, in der die Kellner Spieße mit kleinen, groben Bratwürsten herumtragen, die sie stückweise servieren. Am Wochenende füllt sich der Vorplatz oft bis auf die Straße, wo sich die Gäste das Warten auf ihren Tisch mit einem Bier im Stehen vertreiben. Von dort aus ziehen viele weiter in die nahe gelegenen Großraumdiskotheken, allerdings erst weit nach Mitternacht. Die exklusivste von ihnen ist das Miroir, wo die Jeunesse dorée zu House-Klängen in privaten VIP-Boxen importierten Wodka trinkt und den Go-go-Tänzerinnen zusieht oder den Blick über die Lagune Rodrigo de Freitas auf die Christusstatue am Corcovado genießt.

Den gibt es allerdings wesentlich preiswerter an den Kiosken der Lagune. Der eigenwilligste ist das Palaphita Kitch, eine tropisch anmutende Lounge mit Sofas aus Treibholz, auf denen man Caipirinhas mit Amazonasfrüchten wie Cupuaçú serviert bekommt.

Am Samstagabend wartet Maria in der Estudantina auf einen Tanzpartner. In einem schwarzen Spaghettiträgerkleid und hochhackigen Schuhen sitzt sie an ihrem Tisch und nippt an einem Tonicwater. Maria ist eine alleinstehende Dame in "fortgeschrittenem Alter", mehr gibt sie nicht preis. Und, so betont sie: "Ich bin nur zum Tanzen hier." Zu den sanften Klängen einer achtköpfigen Band schmiegen sich mehrere Paare auf dem Parkett aneinander, die meisten in ihrem Alter. Im schummrigen Licht des Saals an der Praça Tiradentes wird die Dança de Salão gepflegt, der Gesellschaftstanz. Mit gebührendem Anstand, versteht sich. Im Treppenaufgang hängt das Statut, das immer noch gilt: Gäste dürfen weder alleine noch mit gleichgeschlechtlichen Partnern tanzen. Sich länger zu küssen oder auf den Schoß des Partners zu setzen, ist ebenfalls nicht erlaubt.

Begrüßung über das Mikrofon

Für die Einhaltung der Regeln ist Paulo Roberto zuständig. Mühe hat der 58-Jährige dabei kaum. Seit 36 Jahren künstlerischer Leiter des Etablissements, kennt er alle seine Gäste. Kommt jemand zum ersten Mal, wie die zwei Damen aus Bahia am Tisch gegenüber, stellt er sich sogleich vor und begrüßt sie später über das Mikrofon. Als Ehrengast ruft er diesmal den Schauspieler Tonico Pereira aus.

"Ich war lange nicht mehr hier", sagt Pereira. "Aber meine Frau wollte heute unbedingt tanzen." Die Estudantina kannte er schon, bevor Paulo die Leitung übernahm. "Damals war es hier jeden Samstag voll bis auf die Galerie", erinnert er sich im halb leeren Saal. Aber heute hätten die jungen Leute andere Interessen, und deshalb könne kaum noch jemand anständig mit einer Frau tanzen. Pereira fällt auch auf, dass die Regeln inzwischen laxer gehandhabt werden: "Die Frau da tanzt mit Turnschuhen", sagt er und weist auf eine Dame, die in cremefarbenen Chucks übers Parkett gleitet.

Als die Band "Rock in Rio" von Michael Jackson anstimmt, tritt ein Herr in blauem Seidenhemd an Marias Tisch und streckt ihr seine Hand entgegen, die sie wortlos ergreift. Erst auf der Tanzfläche tuscheln die beiden lächelnd miteinander. Hinter ihnen steht in großen Buchstaben das Motto des Hauses: "Enquanto houver dança haverá esperança" - "solange getanzt wird, gibt es Hoffnung."

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Quelle:
SZ vom 05.06.2014/cag
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