Verschlafen stolpert Vincent Liu über den Busbahnhof von Miyun. Fast drei Stunden war er mit der U-Bahn und dem Bus bereits unterwegs. Noch eine Stunde Fahrt in einem Sammeltaxi, dann türmt sich die Chinesische Mauer endlich vor seinen Augen auf.
In seinen 13 Jahren in Peking hat er sie schon oft gesehen - aber noch nie so wie heute. Er ist nicht in Badaling, am bekanntesten Abschnitt - dafür müsste er nicht um 4.00 Uhr aufstehen. Der 32-Jährige wollte nach Jinshanling und Simatai, wo nicht jeder Mauermeter restauriert ist - zur "echten Mauer", wie er es nennt.
Als das unbeheizte Taxi um kurz nach 9.00 Uhr das Ziel rund 120 Kilometer nordöstlich von Peking erreicht, kämpfen sich die ersten Sonnenstrahlen durch den zarten chinesischen Winternebel. Etwa 100 Yuan (zehn Euro) pro Person haben Vincent und sein Begleiter John Ayers aus London für die Fahrt vom Busbahnhof Peking-Dongzhemen aus bezahlt.
Organisierte Touren kosten das Dreifache und holen ihre Gäste meist am Hotel ab. Doch dem Trubel einer Reisegruppe wollen Vincent und John entgehen. Sie möchten die Mauer nur für sich.
Vier bis fünf Stunden sollten für die Wanderung von Jinshanling nach Simatai kalkuliert werden. Nach einem gemächlichen Auftakt zeigt sich die Mauer hier als Achterbahn ohne TÜV-Zulassung: Steile Treppen geht es hinauf und hinunter, mal sind nur Stufen weggebrochen, mal scheint ein Erdrutsch die halbe Mauer mit sich gerissen zu haben.
Es sind Spuren aus mehr als 400 Jahren: Beide Abschnitte wurden während der Ming-Dynastie errichtet oder wiederhergestellt, die in China herrschte, als in Europa das Mittelalter endete. Die Strecken sind weitgehend in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten.
Obwohl es kaum wärmer als null Grad ist, hat Vincent seine Jacke längst in den Rucksack gestopft und kämpft sich den nächsten Anstieg hinauf. "In Badaling wimmelt es von Touristen und T-Shirt-Verkäufern", erzählt der Chinese. "Hier haben wir die Mauer wirklich für uns." Nur drei Händler und zwei Wanderer sind ihnen in drei Stunden begegnet.
Brückenzoll auf der Mauer
Mehr als 30 Wachtürme und ungezählte Höhenmeter haben die Wanderer hinter sich, als sie Simatai erreichen. Ein zweites Ticket muss kaufen, wer auch diesen Abschnitt betreten will. Und es wird Brückenzoll fällig, um auf einer schmalen Hängebrücke vom Ost- in den Westteil des Simatai-Abschnitts zu gelangen. Hier wird es noch einmal steiler.
Über 150 Meter schießt der Gegenhang in die Höhe. Auf den höchsten Gipfel der Simatai-Mauer schaffen es nur wenige Wanderer. Nur über die "Himmelsleiter" sind der "Pekingblick" und der "Engelsturm" auf 986 Metern Höhe zu erreichen. Die bis zu 80 Grad steile Passage erfordert neben Mut vor allem grundlegende Kletterkenntnisse.
Verbunden werden die beiden Türme von der "Himmelsbrücke", einem 100 Meter langen und 40 Zentimeter schmalen Grat. Wer ihn bezwingt, soll nachts die Lichter von Peking sehen können und darf sich "Held der Chinesischen Mauer" nennen. Doch die Beine sind müde, ein Aufstieg über die "Himmelsleiter" wäre jetzt lebensgefährlich. Die Trauer darüber aber hält sich in Grenzen. "Jetzt weiß ich, wie sich Obama auf der Mauer gefühlt haben muss", sagt John - für den Besuch des US-Präsidenten im November 2009 war der Badaling-Abschnitt gesperrt worden. "Aber der musste sicher nicht so früh aufstehen."