Auf den Spuren der Maya:Das Opfer des Königs

Das Reich der Maya erschien vielen Menschen früher als das Paradies: Eine Reise durch ihr damaliges Herrschaftsgebiet Mexiko, Guatemala und Honduras.

Georg Hohmann

Gespenstisch gellt das Meckern durch die Baumgiganten. Eine Ziege ist angepflockt auf einer kleinen Lichtung, mitten im Urwald Guatemalas. Ihr Meckern klingt nicht höhnisch, es ist jämmerlich klagend. Das Tier ahnt sein Schicksal.

Wenn die Sonne über der Lichtung verschwindet, zieht der Tod heran. Die Dämmerung gehört dem König des Urwalds, sie ist die Zeit des Jaguars. Verzweifelt zerrt ihr dürrer Hals an dem Seil. Es gibt kein Entkommen.

Das kleine Dschungeldrama wurde inszeniert von Biologen, die unweit ihres Köders in einer Lodge stationiert sind. Am Abend werden sie den Jaguar durch einen Schuss mit dem Betäubungsgewehr aus seiner Ziegenmahlzeit reißen, ihm einen GPS-Chip einpflanzen und seine Streifzüge künftig via Satellit beobachten können.

Solch präzise Wissenschaft ist erstaunlich hier, mitten im Land der Mythen und Rätsel, im Land eines sagenumwobenen Volkes der Geschichte: dem der Maya. Ihre Hochkultur ging plötzlich auf geheimnisvolle Weise unter, was idealen Stoff zur Legendenbildung lieferte. Hobbyforscher und Esoteriker füllten mit ihren Spekulationen über die mysteriöse Zivilisation ganze Bibliotheken und ließen die ernsthafte Wissenschaft lange Zeit kaum zu Wort kommen.

Gesichert ist: Von 2000 v. Chr. an hatten die Maya das Gebiet bevölkert, das sich über das heutige Honduras, Guatemala, Belize und über Mexikos Yukatan-Halbinsel erstreckt. Sie waren das kulturell höchstentwickelte Volk im antiken Amerika.

Von keiner anderen indigenen Gesellschaft sind so komplexe astronomische Kalkulationen überliefert, sie hatte eine Hieroglyphenschrift mit etwa 800 Zeichen ausgeklügelt. Zwischen 100 und 850 n. Chr. erlebten die Maya ihre Blütezeit in mehr als hundert Machtzentren. Ihr Reich erschien als Paradies.

Mutterland der Apokalypse

Dann, wie über Nacht, verwandelte sich das Paradies in das Mutterland der Apokalypse: Tempel, Straßen, Brücken versanken in glühender Lava entfesselter Vulkane, Erdbeben zerfetzten die Observatorien, eine nie dagewesene Dürre ließ Tiefbrunnen versiegen und Ernten verdorren; Seuchen rafften die Menschen dahin, fremde Armeen zogen brandschatzend durch die Städte.

Keine Katastrophe blieb den stolzen Maya erspart - wenn man den Horrorszenarien glaubt, die sich Maya-Forscher im Lauf der Jahrzehnte ausgemalt haben, um den abrupten Absturz der Hochkultur zu erklären.

Erst in den vergangenen 15 Jahren gelang es Wissenschaftlern, Phantasie und Fakten einigermaßen voneinander zu trennen, indem sie die verbliebenen Bruchstücke der Kultur wie Puzzlesteinchen zusammenfügten.

Das Opfer des Königs

Chemische Analysen antiker Müllkippen und DNS-Proben von Knochen brachten ebenso Licht ins Dunkel wie die fast vollständige Entzifferung der Maya-Schrift. Glyphen auf ausgegrabenen Stelen konnten gelesen, Zeremonien auf Relieftafeln gedeutet werden.

Es fanden sich Belege für hunderte blutrünstige Gemetzel, was die Mär von den sanftmütigen Sternguckern und erfinderischen Kakaotrinkern, für die die Maya noch in den siebziger Jahren gehalten wurden, widerlegte.

Archäologen haben die Pyramidenanlagen, die vor 1200 Jahren in den Tiefschlaf gefallen sind, sorgfältig aus dem Urwald geschält und einen Teil Mittelamerikas zu einem einzigartigen Freilichtmuseum gemacht.

Der Trampelpfad zur Lodge der Jaguar-Jäger führt durch den dampfenden Urwald, der so mystisch ist wie zu den Zeiten der Maya. Pedro, der sonst so redselige Führer, ist still geworden.

1000 Geräusche erheben sich, es zwitschert und girrt und gluckst. Das Leben der Maya war voller Magie, das gesamte Universum war beseelt: Jeder Berg, jede Quelle, alle Tiere und Pflanzen waren Sitz eines göttlichen Wesens. In der Mitte des Pfades verläuft eine schnurgerade Rinne, wie mit der Machete gezogen: ein Transportweg der Blattschneideameisen.

Eine Korallenboa windet sich ins Unterholz, 40 Meter über ihr, in den Wipfeln der Tropenzeder, wohnt der Rotaugenfrosch in regengefüllten Epiphyten-Blättern. Der Frosch galt bei den Maya als Symbol für Zufriedenheit und Glück.

Aber jetzt ist die beklagenswerte Ziege wieder zu hören: Die Sonne geht unter, das Unheil naht. Bei den Maya stand die Sonne für die Farbe Rot und den Ara-Papagei, Grün für Leben und Mensch. Schwarz war der Tod und Balam - der Jaguar. Pedros Atem wird trotz des anstrengenden Marsches flach und leise: Der Jaguar kann nicht mehr weit sein. Doch der Tod ist ein Privileg bei den Maya. Er führt direkt ins paradiesische Reich des Sonnengottes.

80 Kilometer östlich der bald wieder zugewachsenen Grabungsstätte El Peru erhebt sich das gigantische Tikal aus dem Urwald. Es war einst eine Supermacht in der Neuen Welt, beherrscht von 39 Dynastien, deren Könige sich Sturmhimmel nannten oder Groß-Jaguar-Tatze.

Der mächtigste von allen war Ah Cacao - König Schokolade. Tikal wurde in tausend Jahren erbaut, zur Blütezeit lebten hier 150 000 Menschen auf 130 Quadratkilometern. Der sogenannte Tempel IV ist 69 Meter hoch und damit eines der kolossalsten Bauwerke im vorspanischen Amerika. Wie die Maya-Baumeister diese Leistung vollbringen konnten, bleibt ihr Geheimnis. Da es kaum Metallvorkommen gab, verwendeten sie lediglich Werkzeuge aus Obsidian, einem vulkanischen Glas.

Das Opfer des Königs

Nur das Zeremonialzentrum, etwa ein Prozent Tikals, wurde ausgegraben. Die Fläche wird immer wieder für Fotoaufnahmen und die Touristenströme gerodet, zuletzt 1960.

Heute sind die mächtigen Pyramiden wieder im wuchernden Grün versunken, nur ihre Spitzen ragen aus den Baumungetümen hervor. Den besten Ausblick auf diesen Kampf zwischen Natur und Menschenwerk bietet Tempel IV, der an diesem Nachmittag voll mit Touristen besetzt ist. Im milden Scheinwerferlicht des Sonnenuntergangs erstrahlen die Pyramidenspitzen rot über dem grünen Meer der Bäume, das jetzt glänzt wie der eingeölte Panzer einer Riesenschildkröte.

Brüllaffenkonzert vor dem Tempel

Eine andächtige Stille hat Tempel IV erfasst. Auf der Bühne davor aber findet ein ohrenbetäubendes Spektakel statt. Eine Gruppe von Brüllaffen hat ihr Konzert begonnen, mit schrillen Schreien markiert sie ihr Revier. Es ist ein Kläffen und Grunzen, in das bald Hunderte einfallen, ein wütendes Bellen von Kettenhunden, Tausende müssen es jetzt sein, das Brüllen schwillt an und ebbt wieder ab, schlägt über den Wipfeln der Baumriesen zusammen wie die Wogen einer Brandung, in der sich das Kronendach im Rhythmus wiegt. Doch an der letzten Tempelspitze bricht sich milde das Licht der untergehenden Sonne und überglänzt das Inferno mit einer Strahlenkrone.

Die Metropole Tikal wurde im 9. Jahrhundert aufgegeben. Zur gleichen Zeit versank 300 Kilometer westlich, im heutigen Mexiko, ein weiteres Maya-Zentrum. Lakanha, Großes Wasser, nannten die Maya ihre Stadt, erst die spanischen Konquistadoren sollten sie ein Jahrtausend später Palenque taufen. Sie war längst nicht so groß wie Tikal, aber eine der reichsten Städte ihrer Zeit.

Vornehm thront sie auf einem Plateau über dem Tiefland. Eine elegante Anlage, nicht in steinerner Wucht aus dem Boden geballt wie die meisten Maya-Städte, sondern mit leichter Hand auf dem lindgrünen Hain verteilt. Die mit farbigem Stuck verzierten Tempel und Paläste waren einzigartig im Riesenreich der Maya. Sie zierten keine Monsterfratzen, gezähnte Tiermäuler oder Totenschädel wie die Bauten in Tikal, sondern wunderbar feingliedrige Reliefs.

Filigrane Gewölbe im Palast von Tikal

Der Palast erhebt sich über einem Platz, der von kleineren Residenzen des Adels begrenzt wird. Immer wieder haben ihn die Könige erweitert, mit immer prächtigeren Wandmalereien und Stuckaturen versucht, ihre Vorgänger zu übertreffen. Die Architekten Palenques waren berühmt dafür, dass sie besonders filigrane Gewölbe bauen konnten, nirgends sonst gab es so helle und luftige Gemächer. Kleine Fenster, die wie Düsen wirken, sorgen für Ventilation. Ein Windstoß fährt durch die leeren Zimmerfluchten und treibt einen Schwarm Fledermäuse vor sich her, der jetzt den Palast bewohnt.

Über dem Hain liegt eine Wolke von Jasminduft, der die Sinne vernebelt. Ein neuerlicher Windstoß wirbelt eine Wand von Staub und Sand auf. Schwaden von Weihrauch steigen plötzlich auf vor dem Schwitzbad, wo König Kan-Xul gerade eine rituelle Reinigung vorgenommen hat. Der hohle Klang einer Muscheltrompete kündigt ein Blutopfer an.

Das Opfer des Königs

Kan-Xul weiß, dass er zu jeder Zeremonie, ob Kalenderfeier oder Pyramiden-Richtfest, einen Blutzoll zu entrichten hat, um die Götter gnädig zu stimmen. Ohne dieses Opfer wird die Welt untergehen. Diesmal muss er den Sonnengott der Unterwelt, einen der vielen Kriegsgötter, für sich gewinnen.

Kan-Xul bereitet einen Feldzug gegen ein benachbartes Fürstentum vor. Oft musste der König zuletzt Kriege führen: Im Maya-Reich tobt ein erbitterter Verteilungskampf um die immer knapper werdenden Ressourcen. Die Bevölkerung wächst so schnell, dass die Bauern den Hunger der Massen nicht mehr stillen können.

Der Jasminduft wird immer berauschender, noch ein Stoß in die Muscheltrompete. Aus allen Richtungen strömen die Einwohner zusammen, um einen guten Platz vor dem Palast zu bekommen. Die Mitglieder des Hochadels schreiten nach oben auf eine Terrasse des Palastes, wo Kan-Xul mit seinen Priestern wartet.

Die Adligen tragen ihre Festgewänder: Lendenschurze und Röcke aus Baumwolle mit eingewebten Mustern, Umhänge mit den langen, grünen Schwanzfedern des Quetzal-Vogels, Schmuck aus Jadeperlen und Muscheln. Turbane halten die hochgesteckten Haare zusammen. Sie überreichen den Schamanen Schalen mit kostbaren Korallen, Algen und Schwämmen. Das Blutopfer wird diesen Gaben Leben verleihen.

Ein Schamane in Trance

Ein Schamane versetzt sich in Trance. Hofzwerge führen ihm ein Klistier ein. Aus dem Giftschleim der Kröte Bufo Marinus wurde der Einlauf gekocht. Der Priester beginnt einen ekstatischen Tanz, der die Quezal-gefiederte Visionsschlange Kukulkan hervorlocken soll. Sie wird die Verbindung zu den ratgebenden Ahnen herstellen. Nun beugt sich der Priester nach vorn, reißt den Mund auf und rammt sich einen Obsidiandolch durch die Zunge. Langsam tropft Blut in die Opferschale auf dem Altar.

Das Volk jubelt. Wie irrsinnig zuckend nimmt der Priester eine dornenbesetzte Schnur vom Gürtel und zieht sie mit einem Ruck durch die offene Wunde. Nun spritzt das Blut in einer Fontäne auf den weiß gekalkten Boden. Der Platz bebt vor Begeisterung.

Kan-Xul steht abseits in dem Nebel, der aus den Räucherpfannen mit Copalharz über den Palast zieht. Der König weiß, dass seine Macht, sein Reich und seine Welt nur weiterbestehen werden, wenn er seine integrierende Überzeugungskraft als Gottkaiser beim Volk erhalten kann.

Nur er und nicht der Schamane muss die Geschicke durch das Zwiegespräch mit dem Überirdischen steuern. Aber Kan-Xul weiß auch: Das Blut des Königs ist die kostbarste aller Opfergaben.

Jetzt tritt Kan-Xul nach vorn. Atemlose, erwartungsvolle Stille auf dem Platz. Er legt seinen schweren Rock ab, der aus Jaderöhrchen geknüpft ist und den Maisgott Hunal Ye darstellt. Der König spreizt seine muskulösen Schenkel und hockt sich über eine Opferschale.

Ohrenbetäubender Trommellärm hebt an. Mit einem weit ausholenden Schwung seiner Faust stößt sich Kan-Xul einen Rochenstachel durch den Penis. Aber nur ein dünnes rotes Rinnsal quillt aus dem königlichen Gemächt.

Eine frische Brise weht über das Plateau und vertreibt den betäubenden Jasminduft. Die Ruinen von Palenque ruhen friedlich im Licht der untergehenden Maya-Sonne.

Informationen

Reisearrangement: Studiosus bietet eine 22-tägige Studienreise durch Mexiko und Guatemala mit Flug, Transfers, Hotelübernachtungen im DZ und Halbpension ab 3895 Euro an. www.studiosus.com, Telefon: 008 00/24 02 24 02 (gebührenfrei)

Aktuelle Sicherheitshinweise: Informationen zu den Ländern der Maya-Route unter: www.auswaertiges-amt.de

Weitere Auskünfte: Fremdenverkehrsämter von Mexiko und Guatemala unter: www.visitmexico.com. und www. visitguatemala.com.

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