Atlantik-Insel Südgeorgien:Wo steckt die Ratte?

ANTARCTICA

Südgeorgien ist ein Vogelparadies. Auf 30 Millionen wird ihre Zahl geschätzt, allein die Königspinguine bringen es auf 400 000 Paare.

(Foto: Xavier Desmier/laif)

Südgeorgien gilt als Paradies für Vögel, doch das Gleichgewicht der Insel ist durcheinander: Um eine der größten Vogelkolonien der Welt zu retten, müssen alle Ratten sterben. Touristen sollen helfen.

Von Birgit Lutz

Vielleicht schien in jener Nacht 1675 ein fahler Mond über Südgeorgien, und es machte nur sanft: platsch! Wellen glitten still zum Land, an dessen Küste erstmals ein Mensch Schutz suchte, der britische Kaufmann Antoine de la Roché. Und mit den Wellen erreichte unbemerkt ein neues Wesen den sandigen Strand, hinterließ kleine, zierliche Tritte, in der Mitte ein Strich, dann verschwand sie im Tussockgras: die Ratte.

Vielleicht kam sie aber auch erst im Gefolge des britischen Entdeckers James Cook. Oder mit jenen, die Cooks Erzählungen von Stränden voller Pelzrobben und Gewässern voller Wale aufmerksam gelauscht hatten, den Robben- und Walfängern. Sicher weiß man es nicht. Sicher ist nur: Diese Insel ist 1400 Kilometer weit von der südamerikanischen Ostküste entfernt. Ohne die Menschen hätten es die Ratten nicht so weit gebracht. Und das ist wichtig für das, was in den vergangenen fünf Jahren dort passiert ist.

Südgeorgien, heute ein britisches Übersee-Territorium, ist ein wilder, baumloser Ort im Südatlantik. Die Insel liegt auf der Route weniger Expeditionsreiseanbieter. Rund 170 Kilometer lang ist sie und bis zu 35 Kilometer breit, von Wellen umtost und von einigen felsigen Inselchen umgeben. An ihren Stränden tummeln sich zwei Millionen Paare Goldschopfpinguine, 400 000 Königspinguin-Paare, die Hälfte aller See-Elefanten und Pelzrobben der Südhalbkugel, und dazwischen nisten weitere 30 Millionen Vögel - allein 180 000 Brutpaare von Wander-, Graukopf- und Schwarzbrauenalbatrossen.

Wenn Expeditionsschiffe hier haltmachen, steigen die Gäste in kleine Schlauchboote und fahren ans Ufer. "Ich komme mir vor wie mitten in einer National-Geographic-Sendung", sagt die Britin Tonia Noschese, als sie im warmen Morgenlicht am Strand von Gold Harbour im Osten der Insel steht. Die Passagierin der MV Sea Spirit ist in Buenos Aires zur Kreuzfahrt gestartet, Kurs Falklandinseln, Südgeorgien, Antarktis. Noschese ist begeistert: Zwei See-Elefanten-Bullen werfen ihre massigen Körper gegeneinander, während neugierige, junge See-Elefanten die Besucherin ohne Scheu beschnuppern.

Zurück zur Natur: Noch nie zuvor wurde das auf einem derart großen Gebiet versucht

Man wähnt sich an einem Ort, den der Mensch noch nicht verändert hat. Aber das stimmt nicht. Denn die opulente Fauna, insbesondere die Vogelwelt, die die Besucher bewundern, ist in Gefahr, sagt Sarah Lurcock, Direktorin des South Georgia Heritage Trusts (SGHT). Lurcock kommt an Bord des Expeditionsschiffs, als es vor Grytviken liegt. Grytviken ist eine der einstigen Walfangstationen, in der der SGHT heute ein Museum betreibt. Rostige Tanks ragen hier noch in den Himmel, in denen einst Walfett zu Öl geschmolzen wurde. Eine unheimliche Fabrik, in der aus Lebewesen Schmierstoff für die Maschinen der industriellen Revolution gepresst wurde. "Die eingeschleppten Ratten fanden sich hier in einem Schlaraffenland wieder", sagt Lurcock in einem Vortrag vor den etwa 80 Passagieren. "Weil es keine Bäume gibt, nisten die Vögel im Tussockgras - dort schnappen sich die Ratten die Eier oder Küken."

Karte Südgeorgien

Das Resultat, so Lurcock: "Auf der Hauptinsel gibt es fast keine Sturmschwalben, Tauchsturm- oder Blausturmvögel mehr. Der endemische South Georgia Pipit brütet hier nicht mehr." Der Mensch hat das fragile Gleichgewicht der Insel durcheinandergebracht - auch, weil die norwegischen Walfänger Rentiere auf die Insel brachten, um sie für ihren Frischfleischnachschub zu jagen. Die ursprünglichen 20 Rentiere wuchsen mit der Zeit auf eine Herde von 3000 an, fraßen der Insel das Gras von den Hängen. Bis vor rund fünf Jahren der kühne Plan ersonnen wurde, die Fehler der Vergangenheit rückgängig zu machen: Alle Ratten und Rentiere sollten getötet werden. Ob das geglückt ist, muss sich nun herausstellen.

"Wenn wir nur ein einziges Rattenpaar übersehen, scheitern wir"

Nie zuvor war so eine Maßnahme auf einem so großen Gebiet versucht worden. Südgeorgiens unwirtliche Berge erstrecken sich über 100 000 Hektar und damit über achtmal mehr Fläche als die neuseeländische Campbell Insel, die bisher größte Insel, die je von Ratten befreit wurde. "Ein spektakuläres Projekt", sagt Lurcock, "das zu einem Teil durch Spenden von Passagieren der hier anlandenden Schiffe ermöglicht wurde." Jetzt sei das Vorhaben in die letzte und spannendste Phase eingetreten: "Nun wird sich zeigen, ob es uns gelungen ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Natur wieder so werden kann wie vor Hunderten Jahren."

Um an diesen Punkt zu gelangen, wurde in den vergangenen fünf Jahren ein immenser Aufwand betrieben. Tony Martin, Professor für Tierschutz an der Universität von Dundee und Direktor des Projekts, erklärt: "Wenn wir nur ein einziges Rattenpaar übersehen, scheitern wir." Hubschrauber verteilten Giftköder über die Insel. Und weil klar war, dass die Rentiere die für die Ratten bestimmten Köder fressen würden, sollten die Rentiere zuerst sterben. Jäger kamen auf die Insel und schossen die Tiere ab. Wenn sie darüber auf den Schiffen spreche, sagt Lurcock, gehe ein empörtes Raunen durch den Raum. Doch hinterher äußerten viele Gäste Verständnis. "Ich halte beide Aktionen für sinnvoll, damit sich die einheimische Natur regenerieren kann", meint die deutsche Passagierin Monika Waschner, als sie den Vortragsraum der Sea Spirit verlässt. Die Britin Genevieve Roland stimmt ihr zu: "Südgeorgien ist ein einmaliger Rückzugsort für Tiere. Ihn wieder in den Zustand zu verwandeln, in dem er einst war, ist beeindruckend", sagt sie.

Einen Tag nach Lurcocks Vortrag geht die Reisegesellschaft in Fortuna Bay an Land, einer von gewaltigen Bergen begrenzten Bucht. Hier verläuft der "Shackleton Walk", das letzte Stück der langen Wanderung, die Ernest Shackleton vor 100 Jahren zurückgelegt hat, um Rettung für seine auf Elephant Island zurückgelassenen Männer zu holen. "Diese Geschichten sind es, die den Zauber Südgeorgiens ausmachen", sagt Mattias Henningsson, der schwedische Fachmann für Geschichte an Bord des Schiffs, als er am Strand steht und die Bergkette entlang blickt. Shackleton jedoch hatte damals vermutlich weniger Sinn für die Pracht dieser Umgebung. Heute siedeln hier 7000 Königspinguin-Paare, eine vergleichsweise kleine Kolonie.

In einem Flusslauf stehen zerzauste junge Pinguine, von der Mauser geplagt. Hinter einem markierten Felsen steckt ein kleiner gelber Stab im Boden. Anthony Smith, der als Fotograf auf dem Expeditionsschiff arbeitet, untersucht ihn. "Das ist einer der über die Insel verteilten Kaustäbe", sagt er, "mit denen überwacht wird, ob es hier noch Ratten gibt." Smith ist zufrieden: Der Stab trägt keine Bissspuren. Smith kennt Südgeorgien; der Zoologe, Fotograf und Bildhauer hat bereits einige Monate in Grytviken verbracht, um Natur und Menschen dort zu fotografieren. "Ich sehe keinen Unterschied, ob man Ratten vernichtet oder Rentiere. Beide Spezies sind eingeschleppt worden. Weder die Ratten noch die Rentiere werden durch das Projekt in ihrer globalen Existenz bedroht", sagt er, "dafür wird die Artenvielfalt Südgeorgiens erhalten."

Am Strand liegen verblichene Rentiergeweihe, Erinnerungen an die Zeit vor dem Restoration Project. "Vor allem vermitteln mir diese Geweihe ein Gefühl der Enttäuschung", sagt die Touristin Tonia Noschese. "Nicht, weil man die Rentiere abgeschossen, sondern weil der Mensch sie einst so gedankenlos hierher gebracht hat." Sarah Lurcock dagegen hat gemischte Gefühle. "Ich vermisse die Rentiere", sagt sie, "aber als Biologin verstehe ich, warum sie weg mussten." In der nun laufenden Saison bittet Lurcock alle Kreuzfahrt-Touristen, die entlegene Landestellen anfahren, auf Spuren von Ratten zu achten.

Die Wissenschaftler sind gespannt, ob das Projekt geglückt ist. Die ersten positiven Anzeichen gibt es bereits: Gerade erst wurden vier Pipit-Nester in Maiviken entdeckt, die ersten seit Jahrzehnten auf der Hauptinsel. Und Sarah Lurcock sah neulich einen Pipit an ihrem Schlafzimmerfenster vorbeifliegen. Sie sagt: "Es hat begonnen - sie kommen zurück. Man kann sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlt."

Reisearrangement

Unterschiedliche Kreuzfahrtanbieter machen Halt auf Südgeorgien. Die etwa 20 Tage dauernden Reisen beginnen in Buenos Aires oder Ushuaia und führen über die Falklandinseln nach Südgeorgien und die Antarktische Halbinsel. Plätze auf Expeditionskreuzfahrtschiffen bieten z. B. National Geographic Expeditions, G Adventures oder Poseidon Expeditions ab ca. 9500 Euro p. P. an. Oceanwide Expeditions veranstaltet spezielle Vogelreisen. Segeltörns nach Südgeorgien über SIM Expeditions.

Weitere Auskünfte: South Georgia Heritage Trust: www.sght.org, Regierungs-Website: www.gov.gs

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