Atlantic City:Romantik des Ruins

In Atlantic City, der verlotterten Schwester von Las Vegas, ist der Niedergang nicht zu übersehen. Nun besinnt sich die Stadt auf die alten Zeiten als Strandbad.

Jonathan Fischer

Violett aufsteigende Neonlinien. Rotblinkende Hochhausfassaden. Springbrunnen aus Tausenden Glühbirnen. Wer bei Dunkelheit über ein ausgedehntes Sumpfgebiet den Endpunkt des Atlantic City Expressways ansteuert, wird erst einmal von einem Strauß aus Lichtreflexen geblendet: Ein gutes Dutzend Spieler-Paläste strahlen um die Wette. Dazwischen morsen auch noch Hamburgerbuden, Kinos und Steakhäuser ihre Lichtsignale in den Nachthimmel. Bloß nicht übersehen werden!

Casino von Atlantic City

Viel ist nicht mehr los in den Casinos von Atlantic City.

(Foto: Foto: Reuters)

Stromsparen sollen die Menschen woanders. Hier geht es ums Geschäft - und den Ruf von Atlantic City als der Casinostadt an der Ostküste. Nur drei Autostunden südlich des Big Apple empfängt das traditionelle Spielzimmer der New Yorker seine Gäste von seiner bestgeschminkten Seite.

Im Neonlicht nimmt man der jüngeren und ein wenig verlotterten Schwester von Las Vegas alle Versprechen ab. Man glaubt an ihren Glamour. Verbirgt doch der gnädige Mantel der Nacht die Krampfadern und Altersflecken einer Stadt, deren Architektur kaum ein anderes Gesetz kennt als das der Gewinnmaximierung. Präsentiert wird lediglich, was die gewaltigen Scheinwerfer der Casinos für anstrahlenswert halten.

Cola statt Champagner

Wer wie die Motte dem Licht folgt, landet früher oder später unweigerlich in einer der Spielhallen. Ob Borgata, Caesars oder Harrah's: Im Erdgeschoss der dazugehörigen Hoteltürme gelegen, verkörpert jede von ihnen eine Stadt für sich. Oder auch ein riesiges Unterseeboot, in dem jeder stumm seinem Dienstplan folgt. Zwischen Myriaden Leuchtdioden, dem Dauer-Rasseln in den Münzgeldschächten und einem von dicken roten Teppichen gedämpften Interieur scheinen die Menschen fast zu verschwinden.

Zwar sind die Straßen mit den einarmigen Banditen gut besetzt. Schlurfen Rentner, Hausfrauen und Kleinangestellte auf Wochenendausflug von Geldschlitz zu Geldschlitz. Gleiten leicht bekleidete Mädchen mit Tabletts voller Saftgläser vorbei. Und dennoch wirkt die Szenerie unheimlich verlassen.

Liegt es etwa an der Wortlosigkeit, mit der die Spieler die Chips aus ihren Geld-Eimern leeren? Dem stoischen Gleichmut, den die meisten angesichts von Gewinn und Verlust an den Tag legen? Ihren starren Blicken auf die rotierenden Scheiben: Banane, Kirsche, Apfel. Kirsche, Kirsche,

Banane? Tatsächlich bleibt hier nicht viel von der Hollywood-Casino-Romantik übrig. Da darf man lange zwischen den Automatenfütterern in Bermuda-Shorts und Joggingschuhen nach romanreifen Gestalten suchen, die am Roulettetisch ihre Ehre aufs Spiel setzen, sich Champagner statt Cola ranwinken und mit Pokerface ihre Tausend-Dollar-Jetons hinschnippen.

Atlantic City leidet seit langem unter seinem Ruf als Groschengrab. Macht die Stadt doch 75 Prozent ihres Geschäfts mit den Tagesausflüglern, die im Stundenrhythmus mit dem Bus aus New York und Philadelphia vor die einarmigen Banditen gekarrt werden. Die Vorherrschaft der Kleingeldautomaten hat auch pragmatische Gründe: Man braucht kaum Personal. Und Streitereien sind von vornherein ausgeschlossen.

Nun aber hat die örtliche Tourismusbehörde angekündigt, man wolle verstärkt Touristen jenseits des bloßen Casinobetriebs anlocken. Etwa indem man sich der glorreichen Tage erinnert, als noch die Beatles und Rolling Stones, Dean Martin, Sammy Davis Jr. oder Ray Charles zu den Stammgästen der örtlichen Bühnen gehörten. Dieses Jahr jedenfalls hat allein das "Borgata Hotel" Superstars wie Gwen Stefani, John Mayer, Mary J. Blige oder die Smashing Pumpkins angekündigt.

Zudem will Atlantic City sich seiner Naturresourcen entsinnen, sollen der renovierte Boardwalk und die meilenlangen Sandstrände rund um die Kasinos endlich die gebührende Aufmerksamkeit erhalten. Bisher dienten sie meist nur als Salzluft-Dusche für übernächtigte Zocker.

Tatsächlich wird man die Seele der Stadt kaum in den Spielhöllen finden. Ganz im Gegenteil: Oft mutet die geschlossene Glitzerwelt trostloser an als das von tausend Stilbrüchen geprägte Drumherum. Stretchlimousinen neben Schotterbrachen. Straßenzüge, in denen nur noch ein Eckgebäude steht. Und Uralt-Karussells auf den ins Meer ragenden Holz-Piers.

Gerade das ortstypische Nebeneinander von Zuckerbäckertürmchen und Rummel-Ruinen, Spiegelfassaden und geduckten, aus der Zeit gefallenen Backsteinhäusern, entwickelt einen ganz eigenen Flair. Dauernder Niedergang. Dauernde Neugeburt.

Und knapp sieben Kilometer holzbeplankte Strandpromenade, um das Werden und Vergehen dieses jahrhundertealten Seebades in allen seinen Stadien nachzuvollziehen. Denn während die rückwärtigen Quartiere der oft aus der Dritten Welt zugewanderten Angestellten sich kaum von den Ghettos anderer amerikanischer Städte unterscheiden, pulsiert das Leben in Atlantic City an der Strandlinie entlang: Aus den Strandbuden duftet es nach Hot Dogs.

Romantik des Ruins

In Terrarien klettern Einsiedlerkrabben mit bemalten Muschelhäuschen übereinander. Preis: zwei Dollar. Neben einem lüstergeschmückten Hotel-Entree trommelt ein Straßenmusiker auf umgedrehten Plastikeimern. Und während eine übermannsgroße Bugs-Bunny-Figur Flugblätter für familienfreundliche Suites verteilt, rütteln im Windschatten der Spielhallen die Obdachlosen mit ihren Penny-Schüsseln.

Seebad Atlantic City

Auch das ist Atlantic City: Im Borgata Hotel kann man Glücksspiele machen, aber sich auch entspannen.

(Foto: Foto: AP)

Bevor es zur Spielerstadt wurde, hatte AC, wie es seine Bewohner nennen, schon Generationen von großstadtmüden Amerikanern als Sommerfrische gedient. 1854 ging die erste Bahnverbindung nach Philadelphia in Betrieb. Und auf dem abgelegenen Stück Marschland reihten sich bald die Strandhotels. Besonders stolz ist Atlantic City bis heute auf den längsten Boardwalk Amerikas: 1870 war ein Holzsteg an einem Strandstück entlang gebaut worden, um den Sand aus den Lobbys der anliegenden Hotels zu halten.

Stück für Stück wurde er erweitert. Schließlich erstreckte sich der Boardwalk über elf Kilometer von Atlantic City bis zu seinen Nachbarorten. Erst ein Hurrikan zwang 1944 zu einem kürzeren und besser befestigten Neubau. Auch sonst gilt Atlantic City als Pionierstadt: 1882 wurde hier das weltweit erste Vergnügungs-Pier ins Meer gebaut. Anfang des 20.Jahrhunderts machte ein radikaler Bauboom den meist bescheidenen Pensionen entlang dem Boardwalk den Garaus - um sie durch Themenhotels wie das marokkanisch ornamentierte "Marlborough House" oder das goldbedachte "Traymore Hotel" zu ersetzen. 1910 schließlich zählte die Stadt mehr als 400 Hotels, einige davon mit Kapazitäten für bis zu tausend Gäste.

Seebadromantik oder die totale Künstlichkeit?

Nach dem Zweiten Weltkrieg aber teilte Atlantic City das Schicksal vieler älterer Seebäder an der Ostküste. Die Investitionen blieben aus, die Etablissements verlotterten und nicht zuletzt Armut und Verbrechen schreckten viele Touristen ab. Zudem lockten billige Flugverbindungen zu neuen Resorts nach Miami Beach oder auf die Bahamas.

In den späten 1960er Jahren drohte Atlantic City das endgültige Aus: Nur noch die Armen und Alten pilgerten hierher. Die meisten Hotels schlossen oder wurden gleich abgerissen. Erst 1976 beschloss New Jersey zur wirtschaftlichen Wiederbelebung des dahinmodernden Seebads, das Glücksspiel zu erlauben. Also wurden Blackjack-, Roulette- und Poker-Tische herangekarrt, kopierte man im Kleinen das Entertainment-Konzept der Konkurrenz im mittleren Westen und schuf auf diese Weise gut 50.000 Arbeitsplätze.

Kurzfristig ging das Konzept auf. Atlantic City erlebte seine Sternstunden: Etwa als Box-Champion Mike Tyson hier in den 1980er Jahren seine Weltmeisterschaftskämpfe austrug, Pavarotti vor der weltgrößten Orgel im Atlantic Convention Center auftrat, Donald Trump mit gleich drei Kasinos ins Geschäft einstieg. Dennoch konnte sich die Stadt nie so richtig entscheiden: War das Vorbild nun Coney Island oder Las Vegas? Seebadromantik oder die totale Künstlichkeit?

Heute liegt der morbide Charme der Stadt in der Gleichzeitigkeit von Schein und Sein: Was könnte herrlicher sein, als im Angesicht der vergoldeten indischen Palasttürme von Donald Trumps "Taj-Mahal-Casino" am breiten Strand durch die Salzgischt zu flanieren, die Möwen aufzuscheuchen und tellergroße Muscheln aufzusammeln? Oder in der Vorsaison, wenn einem der Boardwalk fast alleine gehört, die Laufschuhe zu schnüren und vermummt gegen die eisigen Meeresbrisen anzulaufen?

Dann kann man auch die U-Boote der Spielhallen links liegen lassen, ohne jemals eine Slotmaschine klingeln zu hören. Und man wird in den verhutzelten Pensionshäuschen, die hie und da noch stehen, wie ein König behandelt: Der Plan der Stadtväter, wieder mehr auf Badegäste und Langzeitbesucher zu setzen, klingt wie eine längst überfällige Idee. Allein die Zufalls-Archäologie von Atlantic City lässt sich schwer vermarkten. Wer aber die allzu grellen Lichter gerne gegen die Romantik des Ruinösen eintauscht, der kann hier dem Zauber einer allgegenwärtigen Vergangenheit verfallen.

Unvergessen die Eröffnungssequenz von Louis Malles 1979 gedrehtem Kinoklassiker "Atlantic City": Er zeigt den Abriss des historischen "Traymore Hotels", während rundum verwitterte Resorts und Vergnügungspiers noch auf die Kasino-Neubauten warten. Mittendrin aber schwärmt Burt Lancaster als ortsansässiger Schwerenöter seiner Angebeteten Susan Sarandon vor: "Du hättest den Atlantik mal früher sehen sollen. "

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