Süddeutsche Zeitung

Artenschutz:Aus der Vogelperspektive

Vor ein paar Hundert Jahren gehörte Neuseeland noch den Vögeln. Auf Kapiti Island ist das heute wieder so. Der Staat wünscht sich das bis 2050 fürs ganze Land.

Von Anja Martin

Tschi-tschi-tschi-tschi! So hat es Manaaki Barrett vorgemacht, als vorhin noch alle im Esszimmer der Lodge saßen. Weil er nicht zufrieden war mit seinem Können, spielte er das schrille, lang gezogene Pfeifen noch mal aus dem Internet vor. Erst die männliche, dann, eine Nuance anders, die weibliche Vogelstimme. Doch jetzt, hier draußen in der Nacht, fällt es schwer, sich zu erinnern. War das im Busch jetzt endlich ein Kiwi? Oder doch wieder nur eine Wekaralle, die eher wie ein Huhn aussieht und gefühlt überall ist? Für sie müsste man sich nicht so anstrengen, sich ans Redeverbot und Gänsemarschgebot halten. Nächtliche Kiwi-Spotter sollen die Füße leise aufsetzen, nicht schniefen, nicht husten und möglichst breitbeinig gehen, damit die Hosenbeine nicht aneinanderratschen, die Hände in die Taschen stecken und dort lassen. Denn Neuseelands Nationaltier, nach dem sowohl die Frucht als auch die Einwohner benannt sind, kann sehr gut hören und exzellent riechen. Das rote Licht von Manaakis Taschenlampe dagegen stört es kaum.

Nicht nur Ratten, alle Säugetiere sind eine Gefahr für flugunfähige Bodenbrüter

Nur noch 70 000 Kiwis soll es auf den beiden Hauptinseln geben. Bedroht durch Hermeline, Ratten, Possums. Sie sind leichte Beute, zumindest die Jungtiere, schließlich haben sie nicht mal mehr Flügel. Dass sich die Vögel Neuseelands einst fühlten wie im Paradies, sich teils sogar das Fliegen abgewöhnten, liegt daran, dass es hier außer zwei Fledermausarten keine Landsäugetiere gab, bis vor 800 Jahren zuerst die Polynesier kamen und die Ratten mitbrachten, später die europäischen Siedler mit dem ganzen Rest, der ihnen nützlich erschien: Katzen, Hunde, Kühe, Schafe, Ziegen, Damwild. Aus Australien holten sich die Weißen dann noch die Possums mit dem schönen Fell, für Pelzmäntel. Die Beuteltierchen wurden zur Plage, da sie keine natürlichen Feinde haben. 30 Millionen sollen in Neuseeland durch die Wälder streunen.

Im Schein von Manaakis Lampe werden die Possums sicher nicht auftauchen. Denn auf Kapiti Island ist die Vogelwelt noch in Ordnung. Oder besser: wieder. Hier hat man die Zeit zurückgedreht. Innerhalb einiger Jahrzehnte gelang es, alle Säugetiere zu verbannen und den Räubern den Garaus zu machen. Keine einzige Ratte durfte übrig bleiben. Heute zwitschert und trällert es unbesorgt auf der Vogelschutzinsel, die für die Einwohner von Wellington in einer Dreiviertelstunde zu erreichen ist. Touristen aus dem Ausland kennen viele der hier lebenden einheimischen Vögel überhaupt nicht, haben nie von ihnen gehört: Da ist der Kākā, ein vorwitziger Papagei, der genau weiß, wo im Haus die Keksdose steht und wie man die Reißverschlüsse von Rucksäcken aufmacht. Oder der Laufsittich Kākāriki mit der roten Stirnhaube und der meckernden Stimme. Der auf dem Festland fast ausgestorbene Singvogel Tīeke mit dem sattelartigen braunen Fleck und den am Schnabel hängenden roten Lappen. Der kleine blaue Pinguin Kororā. Der kleine Miromiro. Die Maori-Fruchttaube Kererū mit dem flaschengrünen Kopf. Der andernorts extrem seltene Hihi und der Tuī, der sogar einem neuseeländischen Bier seinen Namen gab. Die Populationen vergrößern sich, es siedeln sich Arten wieder an, die lange weg waren. 1200 bis 1400 Pukupuku-Kiwi gibt es auf Kapiti Island wieder - das ist die größte Population in Neuseeland, und es sind so viele, dass manche bereits eine neue Heimat auf dem Festland finden. Alle diese Vögel haben nichts zu fürchten, denn schon seit 23 Jahren ist die Insel offiziell räuberfrei, und die vielen Fallen bleiben leer. Nur einmal, 2012, hat ein freiwilliger Helfer ein Hermelin gesehen. Man investierte zwei Millionen Neuseelanddollar in die Suche und fand es nach zwei Jahren.

Den Status quo zu erhalten, bedeutet Aufwand. Und Strenge. Niemand darf ohne eine Lizenz auf der Insel anlanden. Und jede Reise nach Kapiti Island beginnt damit, dass man seinen Rucksack noch einmal auspacken oder zumindest die Hände bis auf dessen Boden stecken muss. So eine Maus müsste ja dann rausflitzen oder einen in den Finger beißen, oder? Das Prozedere findet statt, bevor man auf die Motorbootfähre steigt, und noch einmal, wenn man in der Unterkunft angekommen ist. Der 34 Jahre alte Manaaki lacht und zeigt eine kleine Stoffmaus. Die haben sie vor ein paar Tagen jemand ins Gepäck geschmuggelt, um zu testen, ob er sie findet.

Was Kapiti Island vorgemacht hat und was inzwischen auch 116 anderen Inseln gelungen ist, würde die Regierung gern im ganzen Land sehen. 2016 hat sie die Initiative "Predator Free 2050" gestartet. Bis dahin soll kein eingeschleppter Räuber mehr in Neuseeland leben. Das würde Milliarden an Neuseelanddollar kosten, viele Freiwillige und Sponsoren brauchen. Überall in den Wäldern Neuseelands findet man schon jetzt Giftfallen an den Baumstämmen, die dann mit farbigen Plastikdreiecken gekennzeichnet sind. Es werden dafür auch Chemikalien eingesetzt, die in vielen anderen Ländern verboten sind. An den Plänen gibt es durchaus Kritik. Doch eins ist sicher: Kiwi & Co. sind für die Neuseeländer eine ganz große Sache.

Zu guter Letzt flitzt ein Kiwi vorbei. Wie im Comic: Schnabel voraus, seltsam nach vorn gelehnt

Die wenigsten Einwohner haben allerdings schon einmal einen Kiwi in echt gesehen. Wer darauf aus ist, muss über Nacht auf der Insel bleiben. Und landet automatisch bei Manaakis Familie, die seit acht Generationen auf Kapiti Island lebt und auch an ihren zwölf Hektar Privatbesitz festhielt, als der Staat wollte, dass alle Menschen gehen. Daher sind sie die Einzigen, die Zelte und Hütten vermieten und Kiwi-Pirschen anbieten. Heute allerdings stehen die Chancen schlecht. Nicht nur, weil viele in der Gruppe sind, die gar nicht merken, wie viel Lärm sie beim Gehen machen. Vor allem ist Vollmond. Da verstecken sich die Kiwis lieber. Obwohl. Moment mal. Tatsächlich will noch einer schnell seinen Unterschlupf wechseln. Als Schattenriss flitzt er über die Wiese, erinnert an eine Comicfigur. Mit dem Schnabel voraus und seltsam nach vorn gelehnt. Er wirkt ein bisschen, als müsse er schnell laufen, um nicht vornüberzukippen. Zwei Sekunden, und weg ist er. Warum hatte er es so eilig?

Dass er auf der Insel keine Feinde hat, scheint noch nicht bei ihm angekommen zu sein.

Guided Walks, Tages- und Übernachtungstouren mit Kiwi-Spotting: kapitiisland.com

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Quelle:
SZ vom 14.11.2019
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