Arktis:Lieber Scholli

In Grönland ist die Sommersaison besonders kurz. Und deshalb umso wertvoller.

Von Thomas Heinloth

Der Bär tanzt auf der Scholle. Sechs Schritte auf vier Pfoten den porösen Rand entlang, dann eine halbe Drehung, zurück in leichtem Trab, mit drei, vier Sätzen hinauf zum höchsten Punkt des kleinen Schneegebirges, wo er sich schüttelt. Den ganzen Bär durchläuft ein Zittern, und der Pelz, cremefarben wie ein Narwalzahn, sprüht feine Tropfen. Dann nimmt er wieder Anlauf. "Den ganzen Vormittag", sagt Avgo, "geht das schon so." Den ganzen Vormittag sitzt Avgo Nuko jetzt also vor dem Bären, nur eine Handbreit Wasser zwischen der betanzten Scholle und dem Boot aus Fiberglas. Er wird ihn nicht erschießen. 25 Bären haben sie in dieser Saison erlegt in Tasiilaq und den Dörfern der Umgebung, das ist die Quote, mehr ist nicht erlaubt. So bleibt es kalt, das Jagdgewehr im wasserdichten Futteral, kalt wie die Salzluft überm Fjord, kalt wie der abgetragene Overall in ausgebleichtem Leuchtorange und Avgos klamme Hände. Doch Handschuhe trägt kein Jäger hier. Nicht mehr jetzt, wo der Sommer schon spürbar nah ist.

Am Morgen haben sie den Bären auf der Scholle treiben sehen, vom Meer her, mitten in den Fjord hinein, und sind hinausgefahren, um ihn zurückzutreiben, Richtung See, damit er der Siedlung nicht zu nahe kommt: ein Dutzend Boote an der Scholle, mit Klatschen und Gebrüll, mit Leuchtraketen und mit Schüssen in die Luft. Der Bär blieb, wo er war. "Als ob er wüsste, dass wir ihn nicht erlegen dürfen", sagt Avgo.

Ein Eisbär ist ein Hauptgewinn. Allein die Krallen bringen 700 Kronen das Stück, rund 100 Euro also, als Amulett am Lederband im einzigen Souvenirshop von Ostgrönlands größter Stadt. Tasiilaq: rund 2000 Menschen, ein paar Handvoll holzgerahmter Häuser, tannengrün und rostrotbraun, auf zwei Hügel hingeworfen wie der Krempel um sie herum: Tretschlitten, Benzinkanister, Blechcontainer, Fischernetze, Außenborder, ausgemustert, Hunde an der Kette, vergeblich auf eine warme Hand hoffend, die streichelt, ein paar verschlissene Kinderfahrräder und dazu die Kinder, rotgesichtig, gut genährt. Wäsche auf der Leine und daneben, auch zum Trocknen: Kabeljau und Robbenrippen.

Das Herz des Ortes ist der Hafen, immer schon gewesen. An der Mole zwischen den Containern ein paar Halbwüchsige, sie blicken auf den Fjord und auf den Fortgang des Spektakels an der Scholle. Avgo kommt ihnen näher mit dem Boot, hat beigedreht und lässt den Bären Bären sein. Den Rest des Tages wird er wohl in der Werkstatt verbringen. "Bei Regen", sagt er, "gibt es für mich keinen besseren Platz."

Heute stehen sie zu neunt an den Werkbänken und den Schleifmaschinen, die die Kommune stellt. Neun Jäger, die Handwerker geworden sind für einen Regentag. Wenn es nass oder dunkel ist in Tasiilaq, riecht es hier nach Rentierhorn und Orca-Knochen, nach Elfenbein vom Walross und nach polierten Barten, heiß geworden unter Bohrern, der scharfe Geruch von frisch verbranntem Keratin. Aus dem, was übrig bleibt von Grönlands Tieren, schaffen die Jäger hier die Geister ihrer Ahnen.

Mit den Tupilaq schützen sich die Inuit schon seit ein paar Tausend Jahren vor dem Unbill dieser Welt: verstörende Wesen, menschliche Fratzen mit tierischem Leib, Schutzgeister, die Feinde töten sollen, sich aber auch gegen ihre eigenen Erschaffer richten können, früher rein spirituelle Wesen, dann Amulette aus Haaren, Fellen, Knochen, Gräten. Und jetzt ein Zubrot für Avgo und die anderen. "Mein Großvater schnitzte Tupilaqs, den ganzen Winter lang. Ich hatte Albträume davon", erzählt er. Die gräbt er nun wieder aus an Regentagen, fräst mit dem Bohrer an den Dämonen seiner Kindheit. Den Hauer eines Walrosses in der Hand, sinniert er über sein Tageswerk: Markante Eckzähne wird sein Tupilaq wohl haben, ein dichtes Fell, krallenbesetzte Tatzen. Der Bär von diesem Morgen ist schon ein Geist geworden.

An die tausend Kronen wird Avgos Elfenbein gewordener Albtraum später bringen, Geld, das er gut brauchen kann, seit die vom dänischen Festland eingeflogenen Polizisten streng auf die Abschussquoten achten - und seit die Robbenjagd fast nichts mehr einbringt. "Greenpeace", sagt Avgo, und spricht es "Greenpiss" aus, so wie alle hier, seit der Robbenfell-Import europaweit stark eingeschränkt wurde. Der Außenborder braucht eine neue Schraube und Benzin, drei Kinder kosten, und eigentlich sollte auf seinen Schuppen hinterm Haus noch dringend ein neues Dach. Und so fährt Avgo immer öfter statt zur Jagd jetzt auf Safari, Touristen mit an Bord, die Kameras im Anschlag. Der Klimawandel beschert Grönland mildere Temperaturen und viel mediale Aufmerksamkeit - und immer mehr Besucher.

Meist fährt er sie zum Knud-Rasmussen-Gletscher hinunter, gut drei Stunden mit dem Boot, zunächst hinaus aufs Meer, dann den Itateq-Fjord entlang bis zu seinem Ende, wo sich der Gletscher wie ein monströser Lindwurm von den Bergen über Berge von Geröll nach unten schiebt, um dort zu kalben. Eine turmhohe Wand aus Eis steht hier im Fjord, schrundig und zerklüftet, und davor treibt, was der Knud-Rasmussen erbricht: Mal sind es kühlschrankgroße Brocken, die sich lösen aus der Wand und mit einem harten, trockenen Knall ins klare Wasser schlagen, mal sind es Eispaläste, je nach Sonnenstand schimmernd wie Türkis, Opal, Jade, Smaragd, als seien sie nicht von dieser Welt, changierend, als wohnte tief in ihrem Inneren ein Licht. Zwischendrin die Fabelwesen: Dort schwimmt ein Krokodil mit Entenschnabel, dort ein Einhorn mit nur einem Flügel, Geister wie die Tupilaqs, die Avgo aus dem Horn der Meerstiere fräst. Doch Avgo sieht sie nicht. Sein Blick gilt dem Benzinstand und dem Wellengang, das Boot schlägt Haken um das Eisgeröll im Wasser, legt sich in Kurven an den grauen Uferfelsen aus Granit.

Zwei Elemente: Stein und Wasser. Zwei Aggregatzustände: flüssig und gefroren, viel mehr scheint Grönlands Osten nicht zu kennen. Allenfalls in den kurzen Sommerwochen werden die farblosen Hügel bunt für einen Augenblick, wenn Polsternelken, Steinbrech und Silberwurz im nassen Gras die Gunst des Augenblickes nutzen. Rentierflechten überziehen dann fast jeden Stein, doch die wenigen Rentiere, die mit dem Eis hertreiben und vor der Küste stranden, verhungern bald im Winter, wenn der Schnee monatelang bis zu zwölf Meter hoch in den Senken steht.

Lange waren sie hier unter sich. Erst 1884 ging ein Europäer vor Tasiilaq an Land, Gustav Holm, und traf 413 Menschen, die ihn faszinierten: Wie konnte man in dieser kalten Ödnis nur überleben? Als acht Jahre später das nächste Schiff aus Europa kam, zählte man im Ort nur noch 294 Einwohner, und die dänische Kolonialmacht beschloss eilig, einen Handelsstützpunkt einzurichten. Seitdem ist es die Royal Arctic Line, die Tasiilaq am Leben hält. Die Blechkonserven, das Benzin, die Boote, alles kommt mit der "Royal" her, die Autos, die vom Ortseingang zum Ortsausgang fahren, wo die Straße anfängt und zu Ende ist, die neue Schraube für Avgos Außenborder und jedes Stück in den Regalen des Pilersuisoq-Supermarkts: Kokosnüsse und frische Ananas, Dosenbier, Frühstücksflocken und gleich daneben: Jagdgewehre nebst schwerer Munition.

Tasiilaqs Überlebensration kommt Ende Juni, Anfang Juli mit dem ersten Schiff, das einen Weg durchs Treibeis findet. Dann wächst an der Mole ein Gebirge aus Containern, sehnsuchtsvoll erwartet und eilig ausgepackt. Ein paar Wochen später wird der Polarstrom wieder einen kalten Riegel schieben vor den Ort. Der stete Strom aus Eis, der sich vom Pol her Richtung Süden bewegt, stand und steht noch immer zwischen Tasiilaq und der Welt, eine Barriere, die das Kommen schwer macht und zugleich ein Spektakel ist, das Gäste anzieht von weither.

Der Polarstrom ist ein Ballett und ständig in Bewegung. Und meist hat er kein Ende: Irgendwo am Horizont verschmilzt das weiß gezackte Schollenmeer mit dem sahneweißen Himmel, eine Fantastilliarde Kristalle, unzählbar, wie der Sternenstaub, der sich in klaren Winternächten über Tasiilaq mit dem Polarlicht mischt. Im Sommer bleiben die Sterne unsichtbar. Um Mitternacht färbt sich der Himmel fliederfarben, und der einzig dunkle Ort im Dorf ist dann das Pakhuset, im alten Lagerhaus am Hafen, der Partykeller Tasiilaqs.

Hinter abgeklebten Fensterscheiben drehen sich freitags Discokugeln, und ein flauer Beamer wirft Techno-Videos an die Wand. Das Tuborg kostet 35 Kronen, fünf Euro also, für Dänemark ein halbwegs fairer Preis. Hinter dem Tresen steht meistens dann Ulrikka, Avgos Nichte, wippt mit den Hüften, poliert die Gläser blank und sagt: "Wie wird das hier nur weitergehen?" Kein Jäger und kein Fischer ist unter ihren Gästen, nur deren Kinder, die langsam unruhig werden. Die mächtige Satellitenschüssel nicht weit vom alten Lagerhaus spült jeden Tag die ferne Welt ins Dorf, das bunte Leben aus dem Internet und aus dem Süden, so nah, und doch in einem anderen Universum. Natürlich: Man bräuchte nur den Helikopter zu nehmen, 14 Minuten bis zur Sandpiste von Kulusuk, dann die Propellermaschine Richtung Reykjavík, zwei Stunden und 52 Minuten, und dann, etwa noch mal so lang, weiter nach Kopenhagen. "Abhauen nach Kopenhagen", sagt Ulrikka, "das ist das Letzte, was ist tue." Sondern? Bei Pilersuisoq an der Kasse sitzen? Einen Job als Übersetzerin für Trekkinggruppen suchen? Eine der raren Stellen bei der Post oder in der Verwaltung besetzen? Da lacht Ulrikka, stellt ein poliertes Glas ins Regal und lässt den Blick über den langen Tresen schweifen: "In spätestens zwei Jahren gehört der Laden mir."

Noch drei Stunden dauert ihre Schicht, dann ist der fliederfarbene Himmel draußen von einem leuchtenden Orange, beinah der Ton von Avgos altem Overall. Sie geht nach Hause. Und ihr Onkel wird noch einmal nach dem Bären sehen. Der Außenborder quirlt das Wasser, ein paar Minuten nur vom Hafen bis zur Scholle. Die Wellen schaukeln sachte, und der Geschaukelte scheint zufrieden zu sein. Blutbesudelt von einer frisch geschlagenen Robbe zieht er Kreise auf seiner gefrorenen Insel. Der Bär: Er tanzt nicht mehr. Er reckt den Hals, nimmt eine Nase kalte Luft, blickt wachsam übers Wasser. Im Wiegeschritt bewegt er sich jetzt langsam am porösen Rand der Scholle entlang. Hält inne und läuft wieder weiter, vorsichtig, ein Stückchen vor und eins zurück. Als wolle er ganz sicher gehen, dass das Eis noch trägt.

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