"Volver . . ." Zwei Minuten und siebenundfünfzig Sekunden dauert das berühmte Lied von Carlos Gardel aus dem Jahr 1934: Es ist der traurige Gesang eines einsamen Mannes, der sich hinter schwarzen Augenringen, ergrauten Schläfen und von tiefen Falten zerklüfteter Stirn nach seiner ersten Liebe zurücksehnt.
Zwanzig Jahre sind vergangen, das Herz aber sinnt auf Rückkehr: "Volver . . .", sang der wegen seiner schwarzen Augen "El Marocho" genannte legendäre Tangosänger aus dem alten Marktviertel Abasto von Buenos Aires. Das war ein Jahr vor seinem tragischen Tod in der Glut eines auf einer Landepiste in Brand geratenen Flugzeugs.
Dieser Tango vergeht nie: Zwei Filme allein der letzten Saison - "Volver" von Pedro Almodóvar und "Lichter der Vorstadt" von Aki Kaurismäki - hatten Gardels Lied zur Titelmelodie.
Im flimmernden Lichtermeer von Buenos Aires ist es allabendlich auf der Bühne der "Esquina Carlos Gardel" zu hören: "Esquina" heißt "Straßenecke", und diese Ecke am Ende einer gleichfalls nach Gardel benannten kleinen Straße des Barrio (Quartiers) del Abasto, nahe dem großen Boulevard der Avenida Corrientes, liegt im weißen Licht einer von Scheinwerfern erleuchteten Fassade, die ihre Reflexe auf das dunkle Straßenpflaster zeichnet.
"Volver . . ." 20 Jahre war auch eine Flaschenpost unterwegs, die im Jahr 1837 am Kap Hoorn, der Südspitze des amerikanischen Kontinents, vom Schiff eines Admirals namens Beechey ausgeworfen wurde, bis man sie auffand - an Europas irischer Küste!
Die Strömungen des Meeres sind ebenso unsichtbare Wege wie die Winde. Auf der Südhalbkugel wehen die Passatwinde von Südwest nach Nordost und transportieren die Botschaften von Generationen europäischer Auswanderer zurück in die Heimathäfen.
Der Tango ist das erfolgreichste kulturelle Exportgut einer Stadt, deren Name sich anhört wie ein mit sonorer Stimme deklamierter Vers: Buenos Aires ist benannt nach den "guten Lüften", welche die weit geöffnete Meeresmündung des Rio della Plata durchwehen.
In vergleichbarer Ferne und doch so nah bei Europa liegt keine andere Stadt: Ihre Bewohner, die nach dem Einwandererhafen benannten "Porteños", haben sich in nachgebauten Abbildern sämtlicher Metropolen des alten Europa dauerhaft eingerichtet und die Seelen und den Flair dieser Städte - allen voran Paris, London und Mailand - gleich mit übernommen. Auf solche Weise hegen und pflegen die Porteños ihr melancholisch verträumtes "Volver".
Doch von äußerem Gestaltwandel beinahe unberührt, ist das herbeigesehnte Objekt seither nirgendwo mehr zu Hause als in Buenos Aires, wo neben Musik auch viel Literatur in der Luft liegt.
Dabei blasen die antarktischen Winde hier oftmals sehr heftig und treiben kalte Schauerwolken vor sich her. Die melodramatischen Wirkungen dieses Naturschauspiels lassen sich gut im Fußballstadion Bombonera ("Pralinenschachtel") studieren, das so wegen seiner Bauform heißt.
In der Nordkurve haben die hartgesottenen Fans von Boca Juniors, der Heimatelf von Diego Maradona, ihre Stammplätze. An den sonntäglichen Spieltagen käme hier niemand auf die Idee "Ach lieber Südwind, blase doch . . ." zu singen.
Was unter dem Wogen der blau-gelben Fahnen und Trikots statt dessen gesungen und an Schlachtrufen skandiert wird, entbehrt des übersetzbaren Sinns: Dieser Krakeelertango ist ebenso liederlich wie frühe Tangotexte und findet in der Kontrapunktik der rhythmisch wechselnden Leitchöre "Booo-ca" und "Buf-fa" seine mitreißenden Melodien.
Und wenn er dann doch in die Bonboniere hinein- und frontal auf die Nordkurve zuweht, der "Pampero", wie der verfluchte Südwind heißt, dann haben seine Stöße die Wirkung eiskalter Backpfeifen: Die "Xeneizes" aber, wie sich die Fans und Bewohner des gleichnamigen Hafenviertels La Boca stolz nennen, bäumen sich dann erst richtig auf, wiegen und stemmen sich allem Gegenwind mit noch größerer Stimmgewalt und mit äußerstem Körpereinsatz entgegen.
"Xeneizes" heißt "Genuesen", und das ist originär genuesischer Dialekt, der schon vor seiner Verpflanzung ans südliche Ende der Neuen Welt die kehligen Laute aller Häfen des Mittelmeers in sich aufgenommen hat.
Von genuesischen Einwanderern, zumeist Seeleuten und Dockarbeitern, wurde das nach der Mündung des Flüsschens Riachuelo benannte Viertel La Boca ("Mund") vor über hundert Jahren besiedelt. Verrucht war es schon immer, einst war es sogar der Sitz einer kurzlebigen "Freien Republik", heute ist es stark heruntergekommen und birgt neben verfallenen Häusern und verrosteten Kähnen reichlich soziale Probleme.
Eine seltsame Traurigkeit
Genuesische Luft meint man noch heute im Puerto Madero, dem alten Immigrantenhafen im Süden der Stadt, zu atmen, und dies nicht nur wegen eines säulengestützten Standbildes von Kolumbus. Ähnlich wie in Genua wurden auch in Buenos Aires die ausgedienten Docks und verfallenen Speicherbauten in den letzten beiden Jahrzehnten aufgemöbelt und durch Umnutzung den Bedürfnissen der Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft angepasst.
Während das unmittelbar dahinter gelegene südliche Stadtzentrum dem Hafen zuvor noch abgewandt war, ist es jetzt nach dieser Seite hin geöffnet. Schlaff in der Luft hängen, gleich skelettierten Riesenechsen aus dem Jurassic Park, die stillgelegten Greifarme alter Kräne.
Zu Lufttänzen lädt die futuristische Hängebrücke des Puente de la Mujer ein, die der spanische Architekt Santiago Calatrava hier erbaut hat. Zu dieser "Brücke der Frauen" passt gut, dass sämtliche Straßen des neuen Viertels Frauennamen tragen. Historisch und demographisch betrachtet, litt das Buenos Aires der Ära der großen Einwanderungen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings unter einem dramatischen Frauenmangel, was mit zur Entstehungsgeschichte des Tango gehört, auch zu den schmachtenden Texten seiner Lieder und zu den Formen seiner tänzerischen Zelebrierung.
Die Geschichtsschreiber, darunter auch der große Dichter Jorge Luis Borges, behaupten sogar, dass der Tango anfangs nur unter Männern getanzt wurde. Ähnlich wie der Jazz in New Orleans und zeitgleich mit diesem hatte auch der Tango seinen Ursprung in den Bordellen.
Das Ritual des steten Paar- und Partnerwechsels bestimmt das Tanzverhalten in den Confiterien, wie die Tanzcafés mit Tagesbetrieb heißen. Im belebten Zentrum, kurz bevor die Calle Suipacha auf die Avenida Corrientes stößt, liegt die Confitería Ideal, ein imposanter Bau aus dem Jahr 1912, der wie so viele Gebäude dieser Stadt noch Belle Époque ausstrahlt, wenn auch gebräunt vom Qualm, Dunst und Ruß der Zeiten.
Man muss nur aufpassen, dass man nicht versehentlich das gleichnamige und äußerlich unkenntliche Pornokino nebenan betritt, in dem der Gast nach dem Erwerb eines Billetts am Schalter vom Kartenkontrolleur gleich weiter in den ersten Stock geschickt wird, wo er unbedingt nach "Teresa" fragen solle.
Ein Haus weiter, im gesuchten "Ideal", liegt im Erdgeschoss ein außerhalb von Essenszeiten trist wirkender Restaurationsbetrieb. An einem der vielen leeren Tische sitzt ein einsamer, traurig vor sich hin blickender Mann mittleren Alters bei seinem Kaffee und wischt sich zwischendurch Tränen aus den Augen, bis er zahlt und aufbricht.
Eine Marmortreppe führt hinauf in einen großen Tanzsaal unter Säulen, Kronleuchtern und mit Spiegelwänden. Aber eine seltsame Traurigkeit ist auch hier zugegen: Nach jedem Tanz zeigt ein Isaac-Hayes-Motiv eine kurze Unterbrechung an, in welcher die Tanzpartner, die zuvor meist wortlos zusammengefunden hatten, fast ebenso wortlos auch wieder auseinandergehen. Leise, beinahe unauffällige Gesten und Mienen regeln den geheimen Code der Verständigung, unter dem auf der Tanzfläche die vorübergehende Vereinigung gesucht wird. Die Paare berühren sich mit einer Inbrunst, als wären sie längst miteinander intim.
Die Gesichter der Frauen sind wie verzückt, die sonst bleichen Wangen aschfahler Männer sind gerötet. Doch wenn sich die Tanzpartner einander zulächeln oder sogar ein paar Worte miteinander wechseln, dann nur aus einer gewissen Verlegenheit, bis sie sich wieder voneinander lösen, als hätten sie nie und nimmer etwas miteinander zu tun.
Nur ein junges Punkmädchen und ein weißhaariger älterer Herr in Anzug und Krawatte tanzen sichtlich voneinander entzückt einen Tango nach dem andern und teilen sich danach auch den Tisch am Rande der Tanzfläche.
Ganz anders, martialisch wirkend, aber auch ausgelassener, ist jener Tango, wie er in den langen Nächten vom Samstag zum Sonntag nach 23 Uhr in einer außerhalb vom Zentrum gelegenen Milonga, dem Club Gricel, getanzt wird.
Im Gürtel einst verruchter Vorstädte, der "arrabales", gibt sich der Tango noch immer als das herbe Gewächs zu erkennen, das er in seinen Anfängen war. Vor allem die männlichen Tänzer, einige in tiefblauen Hemden über eng anliegenden schwarzen Hosen, ähneln den von Borges und Cortázar beschriebenen Reptilien und Monstern: Statt Glamour wie in den touristischen Shows geben ernste, bleiche, fast reglose Gesichter den Ton an und die Bewegungen vor. Beinahe ist es, als werde hier gar nicht getanzt, sondern eine äußerst strenge und ernste Zeremonie abgehalten. Aber auch ein Totentanz ist ein Tanz.
"Soy flor de fango" - "ich bin eine Blume im Sumpf" - , singt mit kraftvoller Stimme die berühmte Diseuse Susana Rinaldi in dem alten Tango "De mi barrio" ("Aus meinem Stadtviertel"). Als der Tango geboren wurde, zog sich das Land noch mitten durch die Barrios und die Arrabales.
Ländliche Einsprengsel in Gestalt grün überwachsener Bahndämme, an denen in Buenos Aires fast allerorts präsente Lumpensammler mit ihren armseligen Leiterwagen vorüberziehen, durchschneiden das trendige Viertel Palermo. Üppige Parks und Gartenlandschaften mit natürlichen Hügeln liegen aber auch verborgen hinter den Mauern der alten Palais und mondänen Hotels des Nobelviertels Recoleta.
Das Viertel ist nach dem gleichnamigen Friedhof benannt, der selbst einer kleinen ummauerten Stadt inmitten der großen gleicht: In einem Meer aus Marmor und einem rhetorischen Feuerwerk neobarocken Klassizismus' ist der Friedhof dicht besiedelt mit den Gebeinen von Vertretern der Aristokratie und Generalität des Landes.
Beim Friedhof La Recoleta endet auch die noble Avenida Alvear mit den schicksten und teuersten Läden der Stadt. In einem prachtvoll restaurierten neoklassizistischen Palais der frühen dreißiger Jahre hat seit dem vorigen Jahr das Park Hyatt Hotel seine Tore, genauer: seinen von mächtigen Säulen flankierten Portikus geöffnet.
Dieser Palacio Duhau - so benannt nach der Aristokratenfamilie, die ihn einst bewohnte - ist, außer über eine unterirdische Galerie, durch einen prachtvollen Garten mit einem modernen Anbau nach der parallel verlaufenden Calle Posadas verbunden. Die innere Gartenlandschaft in der Nachbarschaft zweier um die vorletzte Jahrhundertwende erbauter Villen bewahrt einen leisen Nachklang an die Zeit, als Buenos Aires noch in der Pampa lag, die Straßen Felder und die Gebäude Landhäuser waren. Noblesse oblige.
Das Park Hyatt von Buenos Aires lässt jede Melancholie erträglich werden.
Informationen
Anreise: Air France verbindet täglich zehn deutsche Städte über Paris-Charles de Gaulle mit der argentinischen Hauptstadt. Hin- und Rückflug in der Economy Class ab 883 Euro, in der neuen Business-Class "L'Espace Affaires" ab 3318 Euro, inkl. Steuern. Buchung und Reservierung in allen Reisebüros, über www.airfrance.de sowie telefonisch unter 0180 5 830 830 (0,14 E/Min.).
Unterkunft: Park Hyatt Buenos Aires - Palacio Duhau, Avenida Alvear 1661, Buenos Aires, Argentina C1014AAD. Standardzimmer ab 380 US-Dollar. Informationen und Reservierungen (für Anrufer aus Deutschland) unter Tel.:0180 5 23 12 34 sowie unter www.hyatt.com
Weitere Auskünfte: Tourismusbüro: www.bue.gov.ar/home/ (in Englisch).
Populäres Tanzlokal (Milonga): Club de Tango Gricel, La Rioja 1180, Tel.: 0054/11 49 57 71 57. Freitags und samstags ab 23 Uhr, sonntags ab 20.30 Uhr.