Andorra:Steiler Staat, dieses Andorra

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Im Norden von Andorra kann man gut klettern. Zum Abendessen ist man wieder zurück in der Hauptstadt, die im Zentrum liegt. Das Land ist überschaubar. (Foto: mauritius images)

Das kleine Fürstentum kennen viele nur vom Vorbeifahren. Dabei bieten seine Berge eine Menge Abenteuer - und zum Abendessen ist man locker wieder in der Hauptstadt.

Von Karoline Meta Beisel

Vermutlich meint der Bergführer es nur gut, wenn er die erschöpfte Kletternovizin ablenken will, die kurz vor den Tränen ist. Aber ob kryptische, fast schon philosophische Handlungsempfehlungen wirklich die richtige Methode sind? "Riech' doch mal an der Zeit", sagt Mark Crichton zu der Frau im Klettersteig. An der Zeit riechen? Wie soll das denn gehen? Aber bevor sie die Frage stellen kann, streckt Crichton die Hand aus und reibt mit den Fingern an den Blättern einer kleinen Pflanze, die hier oben, zig Meter über der Schlucht von Segudet aus der Wand wächst - Thymian!

Eigentlich sprechen die Einwohner von Andorra Katalanisch. Aber mit Touristen reden sie meist Englisch, und auf Englisch klingt "thyme" fast wie "time", Zeit. Gemeinsam über das Missverständnis zu lachen, hilft tatsächlich über die letzten paar Höhenmeter bis zum Ende des Klettersteigs. Eigentlich gilt der Steig "Creu del Noral" mit seinen 150 Metern Höhendifferenz vom Einstieg in der Nähe des Örtchens Ordino bis zum Ausstieg weiter oben im Wald unter den 16 Klettersteigen des Landes als Anfängerroute. Aber normalerweise hat man auch nicht schon zu Beginn eines Klettersteigs wacklige Knie, weil man vorher drei Stunden mit dem Mountainbike bergab über holprige Wege durch den Wald gebrettert ist.

Über Andorra wissen die meisten Leute nur das, was sie im Deutschunterricht bei Max Frisch gelernt haben: also nichts. Denn in dem Buch geht es zwar um Antisemitismus und Vorurteile, aber nicht um das echte Fürstentum Andorra. Der kleine Staat liegt mitten in den Pyrenäen und wird von zwei ausländischen Kofürsten regiert: dem Bischof des spanischen Bistums Urgell, zu dem Andorra gehört, und dem jeweils amtierenden französischen Präsidenten. Manchem mag noch einfallen, dass das Land lange immer wieder auf der Liste der Steueroasen auftauchte, dass man dort billig Luxusgüter, Schnaps und Zigaretten kaufen kann und dass das größte Skigebiet der Pyrenäen in Andorra liegt.

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Dabei hat das Fürstentum auch im Sommer auf engem Raum manches zu bieten, für das man in anderen Gebirgsregionen lange Anfahrtswege in Kauf nehmen muss. Andorra rühmt sich zwar, der größte unter den europäischen Kleinstaaten zu sein. Trotzdem ist das Land so klein, dass man problemlos nach dem Frühstück ein paar Stunden Mountainbike-Unterricht in Vallnord im Westen des Landes nehmen, am Nachmittag im Norden einen Klettersteig bezwingen und am Abend in der Hauptstadt Andorra la Vella, ziemlich in der Mitte des Fürstentums, zu Abend essen kann. Von der französischen Grenze im Osten bis zur spanischen Grenze im Süden braucht man mit dem Auto gerade mal eine Stunde, dabei kann man wegen der vielen Kurven noch nicht mal besonders schnell fahren.

Genau diese Kurven sind es aber, die das Land für Fahrradfahrer so attraktiv machen. Schon die nicht sehr sehenswerte Hauptstadt Andorra la Vella liegt auf über 1000 Metern Höhe. Mehr als 60 Gipfel des Landes liegen aber jenseits der 2000 Meter, der höchste sogar auf fast 3000 Metern - genug Berghänge also, um einige davon im Sommer komplett den Mountainbikern zu überlassen. Die Bergstation Vallnord zum Beispiel gehört im Winter zu einem der größten Skigebiete des Landes. Jetzt, im Sommer, zeigt sich, dass Wintersportler und Mountainbiker sich sehr gut ergänzen, wenn es darum geht, das Vergnügungspotenzial eines Berges ganzjährig zu nutzen: Die Seilbahn fährt wie im Winter, nur werden in ihr jetzt Mountainbikes nach oben transportiert, auf denen dann mit Schutzkleidung gepanzerte und behelmte Mountainbiker auf und neben den Pisten die Hänge hinuntersausen, während auf der Terrasse des Restaurants mit Blick auf die grasbewachsenen Hänge die Playlist mit den Après-Ski-Partyhits auch bei 25 Grad läuft.

Was den Skifahrern die blaue Piste, die anzeigt, dass hier auch Anfänger einen Weg finden, ist für Mountainbiker die grüne Abfahrt. Für geübte Biker ist die steile Route durch den Wald über Wurzeln, Steine und Kieferzapfen offenbar tatsächlich keine Herausforderung: Als das Handy von Mountainbike-Lehrer Paul Commencal klingelt, geht er ran und telefoniert mit seinem Vater. Die Anfänger hinter ihm mühen sich derweil, sich an alles zu erinnern, was er ihnen erklärt hat - nur mit einem Finger die Bremse betätigen, auf den Pedalen stehen, nie auf dem Sattel sitzen, Knie leicht gebeugt, und in den Kurven das äußere Pedal immer nach unten treten - und vergessen dabei beinahe das allereinfachste: Wie fährt man noch mal nach links? Unten sammelt ein Kollege von Commencal die Gruppe und die Räder mit einem Pick-up wieder ein und fährt sie zurück zum Start. Schon bei der zweiten Runde fängt das Ganze an, wirklich Spaß zu machen. Nur dass die Beine bald fast so zittern wie das Rad, wenn es über die Wurzeln rumpelt: Selbst wenn man den Berg nur hinunterfährt, ist Mountainbiken anstrengender als gedacht.

16 Klettersteige gibt es in Andorra - im Bild die Via ferrata Coll dels Isards. (Foto: Alca Films)

Muskelschonender ist da eine herkömmliche Wanderung. Anderentags treffen wir auf einem kleinen Parkplatz am Waldrand erneut Mark Crichton. Im Schatten ist es am Morgen noch frisch, im Sommer kann es am Nachmittag aber trotz der Höhe auch richtig heiß werden. Der Weg, der sich unter Kiefern die ersten Höhenmeter hinaufschlängelt, heißt Circuit de les Fonts, weil er an mehreren kleinen Quellen vorbeiführt. Das eigentliche Ziel liegt aber erst am Ende dieses Weges.

Noch ein paar Meter hoch geht der Weg über eine Bergflanke, mit jedem Schritt hört man das sonst allgegenwärtige Rauschen der Autos unten im Tal weniger. Dann öffnet sich der Blick in eines der wenigen Täler in Andorra, das nicht durch Straßen erschlossen ist. Nicht, dass die Besitzer der Bauernhöfe, die im Tal liegen, nicht versucht hätten, eine Straße zu bauen. Aber sie durften nicht. Seit 2004 ist das Vall del Madriu-Perafita-Claror im Südosten des Landes als Unesco-Weltkulturerbe gelistet.

Tatsächlich ist der Blick in das wilde Gletschertal wunderschön. Die Hänge sind mit dichtem Wald bewachsen, unten sieht man die Schieferdächer einer alten Sommersiedlung und hinten am Horizont schneebedeckte Gipfel, auf denen die Grenze zu Spanien verläuft.

Auf halber Strecke dorthin, am oberen Ende des Tals, soll in diesem Sommer eine bewirtschaftete Berghütte eröffnen, dann kann man von dort aus auch Mehrtagestouren machen. In Andorra ist das noch eine recht neue Entwicklung: Es gibt zwar schon einige Hütten. Bislang richten sich die allermeisten aber an Selbstversorger.

"In unserem Land gibt es nicht viele flache Stellen", sagt Crichton. Das Tal von Madriu ist eine Ausnahme, weil hier eine Wasserscheide verläuft. So konnten die paar Familien, die früher hier lebten, auf terrassenartig angelegten Feldern, die auf Katalanisch Feixes heißen, Weizen oder Roggen anbauen oder das Vieh weiden. Die Höfe aus Granitstein stehen immer noch, nur werden sie heute nicht mehr als Getreidespeicher, sondern als Fotomotiv benutzt. Auch wenn sich nicht besonders viele Touristen hierher verirren. Ein Großteil der Besucher Andorras kommt nur zum Einkaufen - und fährt dann wieder. Selber schuld: Von der Bergwelt des Landes sehen sie dann nämlich nur das, was vor dem Autofenster vorbeizieht.

© SZ vom 22.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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