Amerika, der Länge nach (IX):Raus aus der Wildnis

Die Wochen im kargen, hohen Norden sind vorbei, per Fähre und Bus geht es Richtung Großstadt, Richtung Vancouver. Die Gefühle sind zwiespältig.

Robert Jacobi

In Prince Rupert verabschiede ich mich von den kurzen Bäumen, den feuchten Böden und den steilen Eisbergen. Die Wochen im hohen Norden sind vorbei, und auch wenn es langsam etwas kalt wird, bin ich doch traurig, das Wunderland verlassen zu müssen. Mein Weg wird mich aus der Wildnis hinunter in grosse Städte führen, mit Lärm und Gestank und vielen Menschen.

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(Foto: Grafik: Dreyssig)

Erstmal kommt aber Prince Rupert, alles andere als eine grosse Stadt, mehr ein Dorf mit Hafen an der Küste von British Columbia. Am späten Vormittag legt die Fähre aus Alaska an. Als ich mal wieder nach Kanada einreise, sieht die Grenzbeamtin, dass ich zwei Äpfel im Handgepäck mitführe. Weil diese Äpfel allenfalls in meinem Magen einreisen dürfen, muss ich sie im Warteraum verspeisen.

Zwei Tage und zwei Nächte habe ich auf der Fähre verbracht, die der Kapitän vorsichtig entlang der "Inside Passage" steuert. Hunderte kleine Inseln mit Fichtenwäldern und Fischerhäfen liegen entlang der Route, und gemütliche Städtchen wie Sitka, Petersburg und Ketchikan. Eine Stunde lang legt die Fähre in Juneau an, der Hauptstadt Alaskas, die nur übers Wasser oder aus der Luft zu erreichen ist.

Lektüre auf dem Oberdeck

Weil eine Kabine zu teuer ist, richte ich mich in einem Liegestuhl auf dem Oberdeck ein. Das ist nicht schlimm, denn fuer ärmere Touristen hat die staatliche Schiffahrtsgesellschaft dort Heizstrahler aufgestellt. Schon nach zwei Stunden Fahrt passieren wir eine Schar Buckelwale, die munter ihre Rücken aus dem Wasser strecken und ihre Fontänen in die Luft blasen.

In meinen Schlafsack eingemummt lese ich über das Schicksal des Christopher McCandless. Ein Junge aus dem gehobenen Mittelstand beendet das College, verschenkt sein Geld und macht sich mit einem gelben Datsun auf den Weg durch Amerika. Er sucht die Wildnis und einfache Menschen, verdient Geld in harten Jobs auf Bauernhöfen und in Fastfoodläden.

Im August 1992 finden zwei Jäger seinen leblosen und abgemagerten Koerper in einem alten Bus, der seit Jahrzehnten auf einer nicht mehr genutzten Schotterstrasse im Denali Nationalpark in Alaska steht. McCandless, eifriger Leser von Henry David Thoreau und Leo Tolstoi, wollte einsam sein und sich nur von Pflanzen und Tieren ernährern, schreibt er in seinem Tagebuch. In Alaska ist das aber nicht so leicht.

Freiheit und ihre Grenzen

Die Geschichte faszinierte damals die Medien, und der Abenteurer und Journalist Jon Krakauer schrieb ein Buch über McCandless. Darin verteidigt er ihn gegen die Menschen in Alaska, die immer noch spotten über McCandless als einen "Cheechakoo", der die Gefahren der Wildnis unterschätzt und zwangsläufig in den Tod wandert. Woran McCandless letztlich starb, ist ungeklärt. Krakauer vermutet giftige Wurzeln.

Raus aus der Wildnis

In den Tagen, die ich in den Bergen Alaskas verbrachte, hielt sich dort auch Sean Penn auf. Unter dem Titel "Into the Wild" verfilmt Penn das Leben des Jungen, mit Stars wie Vince Vaughn, Catherine Keener und Newcomer Emile Hirsch in der Hauptrolle. Im nächsten Jahr kommt der Film in die Kinos, als eine Geschichte über Freiheit und ihre Grenzen, über ein Leben ohne Zwänge.

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Nun ist meine Reise weit weniger abenteuerlich, aber die Geschichte und die Gedanken des Chris McCandless gehen mir trotzdem nahe.

Ich überlege, wie weit ich mich eigentlich auf meiner sechsmonatigen Reise vom routinierten Alltagsleben entferne, und warum ich mich auf den Weg gemacht habe. Will ich etwas finden? Und wenn ja, weiss ich überhaupt, warum ich suche? Schon nach wenigen Wochen fühle ich mich nicht mehr als Urlauber, die Reisetätigkeit wird zu einer Art Lebensweise.

Deutsche im rollenden Hotel

Nachts auf dem Oberdeck habe ich viel Zeit, um über solche Fragen nachzudenken. Nur manchmal stört das Gespräch einer deutschen Touristengruppe, die sich neben mir auf den Liegestühlen ausgebreitet hat. Es handelt sich um Ehepaare und allein reisende Männer mittleren Alters, deren Ferienbus unten im Autodeck steht - einer jener Busse mit der Aufschrift "Rotel". Vorne sind Sitze und hinten Kajüten eingebaut, in denen die Reisenden auf ihrer Fahrt durch Alaska und Kanada übernachten.

Zweimal am Tag hält ein Park Ranger namens Ursula auf dem Observationsdeck einen Vortrag zu Tieren und Pflanzen, an denen die Fähre vorbeifährt. Einmal auf Englisch, das zweite Mal auf Deutsch. Auch die Durchsagen an Bord sind zweisprachig. Ich finde es lustig und freue mich sogar, zum ersten Mal auf meiner Reise auf Deutsche zu treffen. Die Gesprächsthemen gehen allerdings über die Zahl der gesichteten Bären und der bezwungenen Tundrahügel nicht hinaus.

Reiterferien in Niederbayern

Sehr entspannt, aber auch erleichtert gehe ich also in Prince Rupert von Bord. Einen Tag vertändle ich dort in der Sonne, um auf den Greyhound-Bus zu warten, der mich nach Vancouver bringen soll. Da mir nicht ganz klar ist, woraus die Küche von British Columbia besteht, und ich bereits sehr viel Lachs gegessen habe, speise ich in einem Chinarestaurant. Im Supermarkt kaufe ich mir für die Busfahrt aus dem Sonderangebot einen Film.

Während der Mond über Kanada steht, verfolge ich das Schicksal des Trabrennpferdes Seabiscuit, und mir fällt ein, dass ich als kleiner Junge öfter mal auf Reiterferien war. Da waren ausser mir nur Mädels, aber ich war wohl neidisch auf meine grosse Schwester und wollte unbedingt mit. War ganz lustig eigentlich, auf einem kleinen dicken Pony durch niederbayerische Wälder zu reiten. Muss ich in Texas mal ein Pferd leihen.

Am Morgen schenke ich den Film meiner Sitznachbarin, die mir dafür an der nächsten Tankstelle eine Cola spendiert. Irgendwann muss ich umsteigen, bin aber so müde, dass ich den Ortsnamen gleich wieder vergesse. Der Beuteltee war sowieso schlecht. Fairerweise sollte ich auch British Columbia genauer erkunden, aber ich entscheide mich, das später im Leben nachzuholen. Sonst komme ich gar nicht voran.

Am Busfenster fliegen Berge, Seen und Stromleitungen vorbei. Es wird Tag und es wird wieder Abend, und irgendwann ist Vancouver nah. Ich miete mich in einem Hostel direkt am Bahnhof ein und falle trotz Dauerlärm auf der Strasse und im Zimmer in den Tiefschlaf. Frühmorgens erkunde ich die Stadt, die aus einer Riesenbaustelle besteht. In vier Jahren sind hier Olympische Winterspiele, da soll alles nett aussehen.

Nächste Station: Seattle

Bald schleppe ich meinen Rucksack wieder zum Busbahnhof. In Seattle wartet eine gute Freundin auf mich, die mich für eine Weile auf meiner Reise begleiten will. Das freut mich, ich zweifle aber, weil ich nicht weiss, ob ich als Alleinreisender fähig bin, mich plötzlich auf einen anderen Menschen einzulassen und gemeinsam über Routen zu entscheiden.

Wieder werde ich nachdenklich, und ich summe eine Zeile aus "Desperado", einem alten Song der Eagles: "Freedom, oh Freedom, is just some people talking, your prison is walking through this world on your own." Nicht ganz falsch, aber für mich auch nicht ganz richtig. Zwar gehe ich für eine Weile allein durch die Welt, aber irgendwo wartet ein anderes, geregeltes Leben, ziemlich weit weg, auf einem anderen Kontinent.

Diplom-Journalist Robert Jacobi (29) arbeitete bei der SZ als Wirtschaftsredakteur und Parlamentskorrespondent in Berlin. Nach seinem Harvard-Abschluss in Internationaler Wirtschaft hat er sich auf den Weg gemacht - von Alaska nach Chile.

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