Bergphilosoph Jens Badura:"Die Berge waren doch immer schon Kulisse"

Zugspitze

Ein Bergsteiger steht am Gipfelkreuz der Zugspitze.

(Foto: dpa)

Die Zukunft der Alpen beschäftigt den Kulturphilosophen Jens Badura. Er ist überzeugt, dass es die Menschen in die Berge zieht, weil ihnen in ihrem Alltag etwas fehlt.

Interview von Dominik Prantl

Jens Badura zählt zu jenen Menschen, die mit den Bergen mehr verbinden als nur den nächsten Gipfelsturm oder die zünftige Brettljause auf der Alm. Der habilitierte Kulturphilosoph leitet das "Creativealps Lab" der Zürcher Hochschule der Künste, ist Bergwanderführer, beratend für die Alpenschutzorganisation Cipra International tätig - und macht sich als Gründer des "Berg Kulturbüros" in Ramsau im Berchtesgadener Land Gedanken über die Zukunft des Alpenraums.

SZ: Sie firmieren häufig unter dem Zusatz Bergphilosoph. Wofür braucht es den?

Jens Badura: Den Begriff habe ich nicht geprägt, und ich verwende ihn auch nicht. Ich verstehe mich aber schon als jemand, der sich mit den Mitteln der Philosophie Gedanken über die Berge macht. Man kann zum Beispiel wunderbar eine Kulturanalyse der Gegenwart anstellen, wenn man sich anschaut, was in den Bergen getrieben wird.

Jens Badura

"Wer nur Bekanntes sucht, macht keine richtigen Erfahrungen mehr", sagt Kulturphilosoph Jens Badura.

(Foto: Zürcher Hochschule der Künste)

Hat sich denn die Philosophie, mit der Menschen in die Berge gehen, geändert?

Ich würde nicht von Philosophie, sondern von Einstellungen sprechen, im wörtlichen Sinne des "eingestellt sein". Aber zur Frage: Ja. Ja in dem Sinne, dass ein durch regelmäßige Aufenthalte bewirktes Einlassen auf den Gesamtzusammenhang, der die Berge ausmacht, durch ein Fly-in-fly-out-Modell ersetzt wird.

Das heißt?

Wenn ein Gast eine Region öfter besucht, erwächst daraus eine Sensibilisierung gegenüber dieser Region. Er wird dadurch jemand, der Entwicklungen mitbekommen hat und in verschiedener Hinsicht auch Verhältnisse einzuschätzen weiß. Das fehlt beim spontanen, heute üblichen Wochenendaufenthalt, der beispielsweise nur dem biografischen Abhaken der Watzmannüberschreitung dient. Das kann unter anderem auch dazu führen, dass man die Verhältnisse falsch einschätzt und dann möglicherweise ins Verderben rennt.

Was suchen die Menschen heute in den Bergen?

Ich glaube, das unterscheidet sich gar nicht so von dem, was sie schon vor 150 Jahren gesucht haben. Es ist das, was in einem gesicherten, stark normalisierten, städtischen Leben nicht mehr zu finden ist. Es wird ein vermeintlicher Gegenpol zu dem erhofft, was die Alltagserfahrung prägt. Wenn beispielsweise ständig von der Ruhe in den Bergen die Rede ist, dann gibt es im Alltag offenbar ein Lärm- oder Stressproblem. Wenn von Authentizität die Rede ist, gibt es offenbar ein Problem mit einer hochgradig durch Kulissenerfahrung durchtränkten Welt.

Was suchen Sie denn in den Bergen?

Starke Räume. Da, wo es steil wird, gibt die Welt einen Widerstand vor, der im Flachland in der Form nicht da ist. Das ermöglicht Erfahrungen, die ich anderswo nicht machen kann, und regt zum Denken an; in der Atmosphäre des Vertikalen funktioniert der Geist anders. Und ganz profan: Ich lebe da einfach gerne.

Sie sagten in einem Interview, dass sich für Sie der markante Untersberg bei Berchtesgaden am ehesten anbieten würde, um schwierige Entscheidungen zu treffen. Hatte der Dalai Lama also recht, als er den Berg einen Kraftort nannte?

"Kraftort" ist ein interessanter und gleichzeitig unklarer Begriff. Viele Leute verwenden ihn, um eine Erfahrung der Ergriffenheit an einem Ort zu bezeichnen, ohne aber genauer benennen zu können, was da eigentlich passiert - und das geht mir auch so. Will man den Begriff nicht einer esoterischen Banalisierung überlassen, braucht es daher Begriffsarbeit. Hier kann die Philosophie einen Beitrag leisten, indem etwa Fragen gestellt werden, wie Kunst wirkt und wie dort Ergriffenheit bestimmt wird. Bei mir jedenfalls passiert an Orten wie dem Untersberg etwas im Denken, das ich spannend finde und verstehen möchte.

Stimmt der Eindruck, dass zwar immer mehr Menschen in die Berge gehen, aber immer weniger bereit sind, die stark frequentierten Hauptwege zu verlassen?

Ich denke schon. Das hat damit zu tun, dass viele Menschen eine Konstellation vorfinden wollen, die bereits im Vorfeld gerahmt wurde, also nur eine gewisse Erwartungsbefriedigung suchen. Eine Erfahrung im substanziellen Sinne mache ich aber erst dann, wenn meine Erwartungshaltungen scheitern und mir augenscheinlich wird, dass mein Konzept von der Welt hier nicht greift und ich insofern mein Überzeugungssystem verschieben muss. Das wiederum setzt voraus, dass ich mich ein Stück weit den Unwägbarkeiten der Welt aussetze und nicht dadurch versichert bin, dass ich schon vorher weiß, was ich sehen will, und auch nur darauf schaue.

Wie in der Geisterbahn

Nur sucht gerade die heutige Selfie-Gesellschaft genau nach diesen Bildern, die ein bestimmtes Schema erfüllen.

Wobei ich bei den Selfies eine Schleife weiter gehen würde. Es geht nicht nur darum, sich sozial zu platzieren, nach dem Motto "Schau, was ich kann und wo ich war". Genauso wichtig ist es, sich selbst zu bezeugen, dass man da war. Da knüpfe ich bei meinem Erfahrungsbegriff an. Wenn ich mich auf einen Moment oder Ort nicht mehr einlasse, sondern nur vorgegebenen Schemata folge, dann schreiben sich diese Momente oder Orte auch nicht in mein Erfahrungsrepertoire ein - ich brauche dann das Selfie quasi als Beweis für mich selbst.

Sie kritisieren auch immer wieder, dass die Bildsprache der Werbung unser Bild der Berge maßgeblich beeinflusst. Verkommen die Berge dadurch zur Kulisse?

Die Berge waren in gewisser Hinsicht doch immer schon Kulisse, zumindest seit es die Alpen so gibt, wie wir sie uns heute vorstellen. Das permanente Verpflichtetsein auf ein visuelles Vokabular, das uns die Berge zeigt, wie sie ein touristischer Blick seit etwa 150 Jahren wahrnimmt, verhindert allerdings andere, zukunftsorientierte Formen, in den Alpen zu leben. Diese Öffnung des Horizonts kann ich auch nicht unbedingt von der Werbebranche erwarten, aber von allen, die für sich beanspruchen, verantwortungsvoll mit dem Lebensraum Alpen umzugehen.

Ganz konkret: Welche Bilder müsste man denn zeigen?

Die Alpen sind durch die Kleinräumigkeit ja ein Raum, in dem es viel und sehr Unterschiedliches zu sehen gibt - auch Dinge, die nicht dem gewohnten Bild entsprechen: Dreck auf der Alm, Lawinenverbauungen, Bergunfälle. Ich würde mich freuen, wenn diese Perspektiven viel stärker mit dem Alpenraum assoziiert würden als der schöne Berg im Sonnenuntergang, ein Kletterer einarmig am Fels oder die schöne Sennerin, die im Dirndl den Käse serviert.

Liegt die Aufgabe des Tourismus nicht genau auch darin, ein - wie Sie das nennen - Befriedigungsapparat zu sein?

Es ist auch nicht unbedingt die Befriedigung der eigenen Wünsche zu hinterfragen, sondern das Apparathafte dabei. Tourismus ist eigentlich deshalb interessant, weil er Perspektivwechsel und Erfahrungsmöglichkeiten schafft. Genau diese - und da sind wir beim Apparathaften - werden abgeschafft, wenn ich alles mechanisiere, auch die Erlebnisangebote.

Klingt ganz schön abstrakt.

Ich war am Wochenende beispielsweise mit meinem Sohn in einer richtig trashigen Geisterbahn - und mal wieder begeistert, wie stereotyp, ja apparathaft, etwas sein kann: eine Handvoll Schlüsselsymbole, die scheinbar für Erschrecken stehen; Hexen, Spinnen, Skelette. Dieses Modell liefert einen Befriedigungsapparat-Tourismus ab. Das ist dann in der Tat keiner, der dazu anhält, kritisch die eigenen Lebensverhältnisse zu reflektieren: Warum vergesse ich alles andere? Warum brauche ich Gegenwelten? Warum kann ich die Berge nicht so wahrnehmen, wie sie sind, ohne dass im Vorfeld ein monströses Sammelsurium an Versprechen gemacht wird?

Das heißt, wir brauchen Ihrer Meinung nach eine neue touristische Angebotskultur in den Alpen und weniger Geisterbahn?

Ich würde mir etwas mehr Reflexivität wünschen. Es geht nicht darum, dass man es nicht schön haben soll oder sich gut bedienen lässt oder Ruhe oder auch Action genießt. Es geht darum, dass die eigene Rolle stärker am Schirm ist. Ich kann nicht erwarten, dass nur Einheimische bedienen sollen, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Ich kann nicht über das Verkehrsaufkommen jammern, wenn ich in meinem Pkw im Ausflugsstau stehe. So viel Verantwortlichkeit darf man erwarten - und zwar von allen Beteiligten, ob von Anbietern, Vermarktern oder Konsumenten.

Also weniger Ischgl, mehr Ramsau?

Wir haben die Tendenz, den Alpentourismus in ein Plus-Minus-Pol-System einzuteilen. Die Bösen sind in Ischgl, die Guten in Ramsau. Diese Form der Gegenüberstellung halte ich für überheblich - und das sage ich als jemand, der geografisch der guten Seite zugeordnet wird. Ich glaube, es gibt nicht von vornherein den Anspruch, wie Alpentourismus auszusehen hat. Wenn ich ein paar Ischgls sinnvoll umgrenze und nach geltenden Umweltvorschriften einrichte, dann bin ich damit vielleicht alpenfreundlicher unterwegs, als wenn ich Tausende Kleinskigebiete schaffe.

Müssen wir die Alpen neu sehen lernen?

Wir brauchen ein neues Narrativ vom Alpenraum, in dem klar ist: Die Alpen sind zunächst einmal ein Lebensraum, in dem das Leitprinzip jeglicher Entscheidungen das Gemeinwohl der ansässigen Bevölkerung ist. Und nicht einfach eine Gegenwelt, die von Städtern einmal so gemalt wurde, wie die sie gerne hätten.

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