Reisebuch "Finding Afghanistan":Vergangene Hoffnung

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Spielerisch Demokratie lernen: Kinder bekommen das Wählen erklärt, Kabul 2005. (Foto: Martin Gerner)

Martin Gerner zeigt in seinem Bildband den Alltag der Menschen in Afghanistan während der vergangenen 20 Jahre bis zum Abzug der westlichen Truppen. Aus seinen Fotos spricht trotz aller Widrigkeiten eine ungewöhnliche Zuversicht.

Von Hans Gasser

Wer interessiert sich noch für Afghanistan? Nachdem der Krieg mit voller Wucht im Osten Europas losgebrochen ist, rückt der Hindukusch, an dem angeblich unsere Freiheit verteidigt werden musste, noch weiter weg. Einige Monate, nachdem die USA und mit ihnen auch die Deutschen im August 2021 Hals über Kopf das Land und seine Menschen verlassen und den Taliban überlassen haben, ist Afghanistan auch weitgehend aus den westlichen Medien verschwunden. Es sei denn, es gilt kurz zu vermelden, dass die Taliban wieder Rechte für Frauen zurückgenommen haben, so wie unlängst die Schließung weiterführender Schulen für Mädchen und das jüngste Verschleierungsgebot.

Wie gut, dass gerade jetzt Martin Gerners Bildband "Finding Afghanistan" erschienen ist, eine Auswahl seiner Fotos, die er zwischen 2001 und 2021 gemacht hat. In der Zeit also, als "der Westen" mit vielen Soldaten Krieg gegen Extremisten führte und gleichzeitig versuchte, die Afghanen dabei zu unterstützen, einen demokratischen, nach vorne gerichteten Staat aufzubauen. Das ist krachend gescheitert. Vorerst.

Golf spielen im Kriegsgebiet: NGO-Mitarbeiter mit afghanischem Caddy, Qargha, 2004. (Foto: Martin Gerner)

Martin Gerners Bilder setzen genau dort an, wo die Kriegs- und Katastrophen-Berichterstattung aufhört: beim Alltag der Menschen, auf Augenhöhe mit ihnen. Gerner, der insgesamt mehr als vier Jahre in Afghanistan gelebt hat, ist freier Journalist und hat im Rahmen eines internationalen Projektes junge Afghaninnen und Afghanen zu Journalisten ausgebildet. Und er legt großen Wert darauf, dass er nicht, wie die meisten westlichen Journalisten "embedded" gearbeitet hat, sondern "das Glück hatte" ohne militärische Begleitung im Land umherzureisen.

Seine Kontakte zur Bevölkerung und insbesondere zu afghanischen Journalistinnen und Fotografen haben ihn inspiriert, auch deren Blick einzubeziehen in seine Arbeit. Wohl auch deshalb sind viele seiner Fotos geprägt von Zuversicht, von Hoffnung und Empathie. Sie zeigen, dass in einem Land, in dem Krieg herrscht, gleichzeitig auch Freude sein kann; wo es Kinder gibt, die ihre Hausaufgaben auf dem staubigen Boden machen, gleichzeitig aber auch Studentinnen im klimatisierten Hörsaal einer Privat-Uni; statt pittoreske faltige Männergesichter unter dem Turban zeigt Gerner etwa das wissende Gesicht der dienstältesten Polizistin von Kunduz - allein dass es sie überhaupt gab, ist eine Überraschung.

Die dienstälteste Polizistin von Kunduz, 2009. (Foto: Martin Gerner)

"Die Gleichzeitigkeit von Extremen wahrzunehmen und auszuhalten, erscheint mir fundamental für unser Verständnis des Landes und der Menschen", schreibt Gerner. Da ist das Fußball-Länderspiel Afghanistan gegen Pakistan, wo hinter dem Tor ein Mann mit Kalaschnikow steht.

Und während Tagelöhner den ganzen Tag Steine spalten müssen, übt ein kleines, fröhliches Mädchen im Kindergarten das Wählen; chinesische Motorräder, geparkt an einem wunderschönen See bei Bamiyan, zeigen uns, wie und wo manche Afghanen ihre Freizeit verbringen. Es geht dem Fotografen auch darum, mehr Grautöne zu zeigen statt nur Schwarz-Weiß.

Länderspiel Afghanistan gegen Pakistan. Die Afghanen gewannen 3:0. Kabul, 2013. (Foto: Martin Gerner)
Binnentourismus am Band-e-Amir-See bei Bamiyan (Foto: Martin Gerner)

Ergänzt werden die Bilder von Gesprächsprotokollen mit Afghaninnen und Afghanen, die Gerner vor und nach der Machtübernahme durch die Taliban befragt hat. Da ist die Menschenrechtsaktivistin, der Theaterregisseur, ein Blogger, der Universitätsprofessor und die Schauspielerin. Trotz aller Widrigkeiten klangen sie vor 2021 zuversichtlich. "Wir können etwas aufbauen, ein anderes Erbe als das unserer Eltern", war etwa die Aktivistin Shaharzad Akbar überzeugt - bevor die Taliban kamen. Sie sah Entwicklung vor allem in der Bildung und durch Vernetzung. Anlässlich einer kontroversen Diskussion mit anderen Frauen über muslimische Frauenkleidung wie den Hidschab schrieb sie: "Das Wichtigste an der Diskussion war: dass wir Muslime lernen, offen miteinander zu streiten."

Ein Bühnenkuss kann schon zum Eklat führen: afghanische Schauspieler bei einer Theateraufführung in Kabul 2015. (Foto: Martin Gerner)

Sie lebt nun im Exil, wie die meisten der anderen von Gerner Befragten. Und bei den meisten bestimmen Trauer und Wut ihre Gefühle, über das Ausgeliefertwerden an die Taliban, über das erzwungene Exil. Wo sie doch ihr Heimatland zum Besseren verändern wollten. Trotz derzeit schlechter Aussichten für Afghanistan behalten viele von ihnen Hoffnung: der Puppenspieler, dass er seine versteckte Kiste mit den Puppen eines Tages wieder öffnen und damit über die Dörfer ziehen kann. Auch die Aktivistin möchte wieder zurück und gründet ihre Hoffnung auf die "Widerstandsfähigkeit der afghanischen Frauen".

Martin Gerner: Finding Afghanistan. Fotografien 2001-2021. Modo Verlag, Freiburg im Breisgau, 2022. 208 Seiten, 140 Abbildungen, 32 Euro.

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