Reise nach Äthiopien:Ein Dorf bricht die Regeln

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Awra Amba ist in Äthiopien ein exotischer Ort: Hier spielt Religion keine Rolle, gearbeitet wird gleichberechtigt und geheiratet nur, wenn beide wollen. Der Gründer der wahrgewordenen Utopie wird verehrt - und angefeindet.

Von Sven Weniger, Awra Amba

Es gibt diese Gemeinde im Norden Äthiopiens, in der die traditionellen Regeln des Landes über Bord geworfen wurden: zu Religion, Arbeitsteilung, Geschlechterrollen, Zusammenleben. Awra Amba, eine Siedlung in der Region Amhara beim Tanasee, lebt die Idee von Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die Zugehörigkeit zu einer Religion spielt keine Rolle, Frauen und Männer verrichten die gleiche Arbeit, haben gleiche Rechte und Pflichten, teilen die Einkünfte, organisieren das Gemeinwesen zusammen, erziehen die Kinder. Und verehren einen Mann wie einen Guru, der das alles vor mehr als vierzig Jahren gründete und bis heute wie eine Glucke über sein visionäres Projekt wacht: Zumra Nuru.

Es sei egal, ob man katholisch, protestantisch oder orthodox ist, alle hätten denselben Gott

Zumra ist ein mittelgroßer, korpulenter Mann von 69 Jahren. Er trägt ein langärmeliges weißes Hemd, um den Hals hängt ein schmaler Schal. Sein Blick mit den heruntergezogenen Augenwinkeln ist melancholisch. Berühmt ist sein Markenzeichen, eine giftgrüne Fransenmütze, die er stets trägt und, soweit bekannt, nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit abgelegt hat - als er den Ehrendoktorhut der Universität von Jimma erhielt, eine der größten Hochschulen Äthiopiens.

Bei ihrer Ankunft in Awra Amba - das sich wie "Aura" ausspricht - treffen die Besucher Zumra auf seinem Stuhl vor einem hoch gelegenen Haus, die Mütze strahlt von weitem. Schon in Bahir Dar, der Provinzhauptstadt, wurde versichert, exakt dort werde man ihn antreffen.

Zumra Nuru lebt im Dorf Awra Amba im Norden Äthiopiens. Wer ihn trifft, lernt eine revolutionäre Idee von Gemeinschaft kennen. (Foto: Sven Weniger)

Unangemeldeter Besuch scheint im Dorf nicht unüblich zu sein. Routiniert begrüßt Zumra den Besucher und bittet in einen Versammlungsraum. Worksew Yeshanew, die sich als Assistentin vor- und später als seine Tochter herausstellt, übersetzt aus dem Amharischen. Zumra kommt gleich zur Sache.

Religion sei Privatsache. Es sei egal, ob man katholisch, protestantisch oder orthodox sei, alle hätten denselben Gott. Es gebe hier auch keine geschlechterspezifische Diskriminierung. Wenn Männer und Frauen körperlich das gleiche leisten könnten, täten sie das. Alle wollten hart zusammenarbeiten, ohne andere zu übervorteilen.

Jeder Tag ein Arbeitstag - eine Utopie in Äthiopien

Jeder Tag sei ein Arbeitstag, egal ob Sonntag oder Montag, egal, ob es sich um muslimische oder christliche Feiertage handelt. Durch die gemeinsame Arbeit ehrten sie ihren Anführer.

In Äthiopien kommt so etwas bis heute nicht gut an. Die äthiopische Kirche ist eine der ältesten christlichen Glaubensgemeinschaften überhaupt und sehr orthodox. Es gibt Regionen mit 170 religiösen Feiertagen im Jahr, das schlägt auf die Arbeitseffizienz durch. Männer und Frauen haben traditionell unterschiedliche Aufgaben.

Mädchen werden oft noch von der Familie verheiratet; im Süden des Landes ist Polygamie weit verbreitet. Beides ist in Awra Amba tabu. Mann und Frau heiraten nur, wenn beide es wollen. Ehen unter 18 Jahren sind ausgeschlossen. Awra Amba ist in Äthiopien ein exotischer Ort.

Kein Müll, niemand bettelt

Nicht äußerlich, denn da unterscheidet sich die Siedlung anfangs kaum von anderen der Region. Abseits der Nationalstraße 3 sind die Wege staubig, die Hügel spärlich bewachsen, rotbraune Erde, verstreute Hütten aus Holz und Lehm, dazu flache, barackenartige Gebäude, Wellblechdächer. Der Dorfplatz ist ein sandiges Areal mit ein paar Bäumen. Hier und da knabbert eine Ziege an Grasbüscheln, Kinder spielen Fußball.

Gewohnt staubig, aber ohne Müll: Awra Amba in Äthiopien (Foto: Robert Joumard/CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11003000)

Der zweite Blick bei einer Ortsbegehung mit Ayalsew, einem Sohn Zumras, ist aufschlussreicher. Der sonst im Land allgegenwärtige Müll fehlt, die Häuser sind in gutem Zustand. Niemand bettelt, in Äthiopien fast eine Sensation. Awra Amba hat ein Schulhaus, einen Kindergarten, ein Altersheim; auch eine Bibliothek mit tausend Büchern, in Reih und Glied in Lehmregalen geordnet.

Anfangs wurde Awra Amba von den umliegenden Gemeinden angefeindet. Keine Tradition, kein Glaube, Teufelszeug. Jahrelang zog Zumra als Wanderprediger durchs Land, während des Bürgerkriegs musste er flüchten. Erst hier erlaubte man ihm, sich mit wenigen Getreuen niederzulassen. Soziologen wurden auf Awra Amba aufmerksam, wissenschaftliche Studien begannen.

Es war der wirtschaftliche Erfolg, der schließlich die Akzeptanz der Nachbarschaft brachte. Zumras Gemeinschaft betreibt neben klassischer Landwirtschaft und Tierhaltung drei Lebensmittelgeschäfte, zwei davon in anderen Siedlungen, eine Molkerei und eine Kornmühle, die auch das Getreide der Nachbarn verarbeitet. Die Weberei verkauft ihre Textilien im eigenen Shop und in Bahir Dar. Die Schule Awra Ambas nimmt auch Kinder aus anderen Dörfern auf.

Auch Touristen bringen Geld

Der Neid sei abgeklungen, sagt Ayalsew. Auch der Westen erfuhr schließlich von diesem seltsam unäthiopischen Ort, dem Internet sei Dank. Die ersten Touristen kamen. Awra Amba verdient heute Geld. Es gibt ein Teehaus und ein Hostel, das Übernachtungen für drei Euro anbietet und sich auch auf Portalen wie Airbnb findet.

Was ist Awra Amba? Ein Experiment? Eine Kommune? Eine Vision? Wer die Siedlung besuchen würde, ohne die Geschichte zu kennen, käme nie darauf, dass sie einzigartig in Äthiopien ist. Ein dritter und vierter Blick sind nötig, Strukturen zu erkennen, die durchaus realsozialistische Züge tragen, gelegentlich auch die einer Sekte.

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Da sind die Ehrungen für Zumra, die die Wände des Versammlungshauses bedecken: Auszeichnungen von NGOs, Portraits aus Unistudien und der Presse, Fotowände, Dokumentationen im Netz; Youtube-Videos von Besuchern, die sich zum stets stoisch blickenden Mann mit der Mütze zum Selfie gesellen.

Zumra Nuru, der behauptet, bereits als Kleinkind die Ungleichheit von Mann und Frau in den Traditionen der äthiopischen Gesellschaft erkannt zu haben; der das Zusammenleben revolutionierte und die Arbeit. Ein Bauernjunge ohne Schulbildung, bescheiden im Auftritt, entschieden im Anspruch.

Der Gründer Zumra Nuru sagt, Besucher können hier erleben, was möglich ist: Frieden

Ein amerikanisches Reisemagazin nannte Zumras Gemeinde nicht unpassend pantheistisch, kommunistisch, feministisch und kultisch - ein wilder Querschnitt durch den Garten der Ideologien, ebenso wohlklingend wie wirr.

In Awra Amba mit seinen zurzeit 144 Familien kümmert sich ein gutes Dutzend fest eingesetzter Komitees aus Dörflern sowohl um Grundsätzliches wie die Entwicklung der Gemeinde als auch um Profanes wie den Empfang von Gästen. Es gibt zwei Formen, in Awra Amba zu leben: Als Mitglied der Gemeinde oder darüber hinausgehend als Teil der Kooperative. Das kostet dann eine geringe Aufnahmegebühr, danach gibt es keine weiteren Kosten.

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Wenn die Leute in der Kooperative arbeiten, werden die Einnahmen aufgeteilt. Es gibt ein Komitee, eingesetzt von den Mitgliedern, das sich um die Finanzen und alles andere kümmert. Jeder bekommt dann am Jahresende gleich viel. Viele Bewohner sind diesen Weg gegangen. Zurzeit herrscht Aufnahmesperre.

Auf die Frage, was nach seinem Tod aus der Gemeinde wohl wird, antwortet Zumra Nuru mit bescheidener Geste, er habe keine Vorstellung, wie Awra Amba sich weiter entwickeln werde. Aber er wünsche sich, dass die Besucher hier wie in einem Spiegel das sähen, was möglich sei: Frieden. Wer Konflikte im Kopf habe, lebe in Unfrieden, wer Frieden im Kopf habe, lebe friedlich. So einfach sei das.

© SZ vom 09.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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