Süddeutsche Zeitung

40. Nationalpark für Finnland:Hossa? Hossa!

Was schenkt man, um hundert Jahre Unabhängigkeit zu feiern? Finnland meint: ein neuer Nationalpark wäre doch nett.

Von Florian Sanktjohanser

Die Wanderer stehen auf einem Bein, das zweite übergeschlagen, sie strecken die Arme in die Luft und saugen den Kiefernduft ein, der so heilsam sein soll. Sie schließen die Augen, stemmen sich gegen die Schuppenrinde der Bäume am Seeufer. Und wandern dann weiter, zu den Schlägen der Schamanentrommel, vorbei an einem Vater und seiner Tochter, die in einem Unterstand Würstchen an Stöcken grillen und einfach nur schauen.

Wald-Yoga heißt das Ganze, es ist eine der neuen Aktivitäten, von denen bis vor Kurzem wahrscheinlich kein Besucher in Hossa je etwas gehört hat. Aber jetzt soll vieles anders werden hier im Norden Finnlands, vielfältiger, moderner. Denn Finnland feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag, und passend zu diesem Jubiläum wurde der 40. Nationalpark des Landes ausgerufen: Hossa!

"Der Jubel war groß in der Gegend", sagt Sini Salmirinne, "außer Naturtourismus gibt es hier nichts." Die Radiojournalistin wurde von der Nationalpark-Organisation Metsähallitus eigens für dieses Jahr eingestellt, um den Kollegen aus aller Welt Hossa zu zeigen. Drei Stunden fährt sie vom Flughafen Kajaani nach Norden. Rentier-Familien äsen neben der Straße, Kiefern- und Birkenwälder fliegen am Fenster vorbei, ab und an ein paar rote Bauernhäuser und eine pastellgelbe Kirche.

Die Figuren auf dem Fels zeigen Menschen in Trance, gemalt vor Jahrtausenden

An einer Tankstelle im Dorf Suomussalmi stoppt Salmirinne zum Mittagessen. "Das ist der lebendigste Ort des Dorfs", sagt sie, "hier treffen sich schon morgens die Alten zum Palavern." Die 41-Jährige ist selbst in Suomussalmi aufgewachsen. "Damals war viel mehr los hier", sagt sie. "Viele Junge sind weggezogen." Der Nationalpark bringt nun neue Hoffnung. Bisher kamen vor allem ältere Wanderer, Jäger und Angler, nun sollen die Berichte neue Gäste anlocken. Und tatsächlich zählte man bereits im vergangenen Jahr 20 Prozent mehr Besucher.

Zum Festakt mit Präsidenten wurde das Besucherzentrum modernisiert, wurden Hütten und Piers renoviert, neue Schilder für die Wanderwege aufgestellt und eine Hängebrücke über den Schluchtensee Julma-Ölkky gebaut. "In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sich hier viel verändern", sagt Salmirinne. "Der große Wandel hat gerade erst begonnen."

Wer als Mitteleuropäer zum Einstieg den kurzen Naturlehrpfad geht, fragt sich, warum Hossa nicht schon längst Nationalpark war. Der Weg schlängelt sich über Hügel und Kämme, zwischen Kiefern wuchert ein dichter Teppich aus Moosen, Flechten und Beerenbüschen. Immer wieder leuchten Seen blau durch die Baumstämme. Ein Entenpaar startet schnatternd durch, ein paar Vögel zwitschern, sonst ist nichts zu hören. Eine bildschöne, nordische Wildnis. Aber Wälder und Seen gibt es in Finnland eben fast überall. Also warum Hossa?

Die Frau, die diese Frage am besten beantworten kann, trägt eine Frisur wie Angela Merkel in den Neunzigerjahren, dazu Gummistiefel und einen grotesk bunt gemusterten Pulli. Es ist unmöglich, Riitta Nykänen nicht auf Anhieb zu mögen. Die 59-Jährige, die als Umweltberaterin Ranger für die Nationalpark-Organisation ausbildet, redet schnell, kundig und enthusiastisch, dazu malt sie mit den Händen in der Luft. "Wir laufen hier durch einen Eiszeit-Themenpark", ruft Nykänen.

Sie erzählt von den Tunneln, die das Schmelzwasser einst in die Gletscher gefräst hat, und von Eisblöcken, die von Sand eingeschlossen wurden und Mulden in den Boden drückten. Das Ergebnis all der Naturgewalten ist eine gigantische Sand- und Kiesgrube. Ihre Senken sind mit Grundwasser vollgelaufen, das durch Kies und Sand gefiltert und dadurch selbst für finnische Verhältnisse außergewöhnlich klar ist. So klar, dass im Öllöri-See sogar Taucher ins kalte Wasser steigen.

Nykänen führt zwischen Baumriesen hindurch, von den Ästen hängen Bartflechten wie das Werk eines Lametta-Fanatikers. "Das war immer Wald hier", sagt sie, "seit der letzten Eiszeit." Sie streichelt die schuppige Rinde einer Kiefer, 350 Jahre alt, schätzt sie, und Lebensraum für viele andere Arten: Pilze, Insekten, Vögel. Manche der Methusalems sind unten rußschwarz, sie haben mehrere Waldbrände überlebt. "Der uralte Kiefernwald ist für die Finnen die nationalromantische Landschaft schlechthin", sagt Nykänen.

Das passt natürlich gut zum 100-Jahre-Jubiläum. Genauso wie jene längst vergessene Episode, die sich Anfang April 1917 im nahen Suomussalmi zutrug. In der Kirche hatten sich die Bürger des Dorfs versammelt, sie waren unzufrieden mit ihrem Leben als Knechte der Russen. Am Ende entschieden sie, eine Delegation nach Helsinki zu schicken und Finnlands Unabhängigkeit zu fordern. Das hatte sich bis dahin noch niemand getraut. Der Vorstoß der Provinzler aus dem Norden war letztlich bedeutungslos, denn es folgte die Revolution im Zarenreich. Aber als es darum ging, den Jubiläums-Nationalpark auszuwählen, war diese Verbindung "die Kirsche auf der Sahnetorte", sagt Nykänen.

Info

Anreise: Lufthansa startet im Winter Direktflüge von Frankfurt nach Kuusamo, das eine Stunde nördlich von Hossa liegt, hin und zurück ab 199 Euro. Im Sommer ist die kürzeste Verbindung ein Flug über Helsinki nach Kuusamo oder Kajaani, weiter mit dem Mietwagen. Während der Schulzeit (15. August bis Ende Mai) fährt täglich ein Bus von Kuusamo nach Hossa. Wer von Helsinki über Land anreist, nimmt den Zug nach Kajaani (ca. sieben Std.), weiter mit dem Bus nach Kuusamo (dem Fahrer sagen, dass man an der Kreuzung Peranka aussteigen will). Die Betreiber der Campingplätze holen Gäste dort nach Absprache ab.

Reisezeit: Juli gilt als der Monat mit dem schönsten Wetter - und den meisten Mücken. Im Juni können die Seen noch zugefroren sein, im August wird es wieder herbstlich. Zum Kanufahren sind Frühling und Frühsommer am besten, zum Langlaufen der April.

Wandern: 90 Kilometer Wege sind markiert, die meisten sind leicht zu gehen. Die schönsten wurden mit Farben und Namen herausgehoben und lassen sich zu einer Mehrtagestour verbinden.

Wassersport: Bei den Campingplätzen kann man Kanus und Kajaks ausleihen; Stand-up-Paddling bietet Lazy Dog SUP vom Hossan Lumo Campingplatz aus an, http://hossa.fi/ohjelmapalvelut/lazydog-sup.

Unterkunft: Am Wegesrand findet man Selbstversorger-Hütten; Miethütten sind seltener und haben oft nur kaltes Wasser, andere bieten Sauna und heiße Dusche (www.nationalparks.fi/en/huts/kainuu). Ein paar Kilometer außerhalb des Parks liegt der Campingplatz Hossan Lumo. Hütten sind hier ab 35 Euro zu haben, die besten mit Küche, Bad und Sauna kosten 135 Euro (www.hossanlumo.fi). Die luxuriöseste Unterkunft der Gegend ist Hossan Lomakeskus; die Hütten mit Glasfront zum See und Jacuzzi auf der Terrasse, DZ 85 Euro, www.hossanlomakeskus.com

Weitere Auskünfte: www.visitfinland.com, www.nationalparks.fi/en/hossa, http://hossa.fi

Die Kirche ist längst abgebrannt, im Winterkrieg gegen Stalins Rote Armee. Die Werke der Steinzeit-Künstler aber haben überdauert. Zwei Langläufer entdeckten sie, als sie 1972 über den gefrorenen Somerjärvi spurten: 60 Figuren, mit rotem Ocker auf Fels gemalt vor 4000 Jahren.

Ein Schamane tanzt in Trance, die Arme ausgebreitet, auf dem Kopf zwei Geweihe. Neben ihm stehen zwei Strichmännchen mit Dreiecksköpfen, "Schamanen mit Birkenrinden-Masken", erklärt Nykänen, wie sie Indigene heute noch in Russland tragen. Dazwischen Elche, Bären, Vögel. Die Maler müssen auf einem Boot gestanden haben oder auf Eis. Denn das Figurenkabinett ist auf eine Felswand gepinselt, die in einen See stürzt. Also genau dort, wo sich in der Geisteswelt der Ur-Skandinavier Himmel, Erde und Unterwelt treffen.

"Die Gemälde sind anders als viele Felsmalereien in Finnland", sagt Nykänen, "sie sind eindeutig magisch." Manche Forscher vermuten, dass sie das Jagdglück beschwören sollten, andere halten sie für Totemtiere. Wie auch immer, es passt jedenfalls, dass sie vom Wasser aus gemalt wurden. Denn über Jahrtausende kamen die Menschen vor allem im Kanu hierher.

Rein ins Kanu und ewig weiterpaddeln

"In Hossa kreuzen sich mehrere Wasserwege", sagt Janne Autere, "man könnte von hier bis zum Bottnischen Meerbusen paddeln." Autere sieht aus, wie man sich einen finnischen Bären vorstellt: bullig, kantiger Schädel, strohblonder Vollbart. Seit fünf Jahren führt er Besucher durch die Natur, im Winter auf Langlaufskiern, Schneeschuhen und Husky-Schlitten, im Sommer in Kajaks und Kanus.

Sein Doppelkanadier gleitet ruhig über den Hossanjärvi, bewaldete Inselchen ziehen vorbei, Bäume und Wolken spiegeln sich im See. Autere erzählt von den Händlern, die hier einst mit Kanus voller Tierhäute, getrocknetem Fisch und Perlen fuhren. Und von den Menschen der gerade erst vergangenen Jahrhunderte, deren einzige Geldquelle es war, Teer zu brennen, in Fässer zu füllen und zu den Häfen an der Küste zu flößen.

Bis heute ist die Kette von Flüssen und Seen perfekt zum Kanufahren. Man möchte den Rucksack ins Boot werfen und tagelang so weiterpaddeln, im endlosen Mittsommerlicht, eine kühle Brise im Gesicht. Oder einfach loswandern, Weg an Weg reihen, so wie die drei Finnen, die irgendwo im Wald plötzlich an einer Wegkreuzung stehen. Ihre Rucksäcke sind monströs, 30 Kilo, sagt einer lapidar. Sie tragen alles mit, Zelt, Schlafsack, Essen. Und bekommen dafür die größtmögliche Freiheit in der Wildnis.

Eine Woche wollen sie in einer großen Schleife durch den Park wandern. Am Schluchtensee Julma-Ölkky entlang, dessen Steilufer 50 Meter ins dunkle Wasser stürzen, und über den Kammweg des Kokalmuksen Kierros zwischen zwei lang gestreckten Seen, das vielleicht schönste Wegstück im gesamten Park. Abends dann rollen sie ihre Schlafsäcke aus, in einem Unterstand am Seeufer oder in einer Hütte an einem leise plätschernden Bach. Fangen vielleicht einen Fisch und grillen ihn. Und sitzen am Lagerfeuer, bis sich der Himmel in ein zartes Lila verfärbt. Wald-Yoga brauchen die drei vermutlich eher nicht.

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Quelle:
SZ vom 29.06.2017/kaeb
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