4. Station: Buenos Aires:Liege-Tage eines Flaneurs

Erkundungen in Buenos Aires: Aus der Vergangenheit grüßt der Tangospieler, in der Gegenwart kämpfen die Bürger um verlorenes Geld.

Klaus Podak

Die Liege-Tage im Hafen sind, ganz im Gegensatz zu dem Ruheversprechen, das in diesem Wort aufscheint, die anstrengendsten von allen. Schuld sind die Busse, die drohend in langen Schlangen vor der Gangway unseres gemütlichen Schiffs auftauchen und die unvorsichtig weit vorher gebuchten, überaus beliebten Landausflüge mit uns abarbeiten wollen. Da geht es dann recht heftig zu. Rein in den Bus, los mit dem Bus, raus aus dem Bus, wieder rein in den Bus, weiter. Zwischendrin: hierhin sehen, dorthin sehen, viel fotografieren, schnell kaufen, hastig essen, gut schwitzen, leise jammern, laut jubeln, streng vergleichen. Das zehrt am Gelassenheitsvorrat, der an Bord angespart worden war, auf geduldiger See.

4. Station: Buenos Aires: Politische Denkmalschmiererei

Politische Denkmalschmiererei

(Foto: Foto: Podak)

Gesegnet sei die auf unserem Kreuzfahrtschiff durchaus erlaubte, dem Menschen eigentlich eingeborene Faulheit. Sie beschützte so manchen von uns vor dem blindwütigen Buchen strapazenreicher Landfahrten. Wir standen oben an der Reling, sahen teils froh, teils melancholisch hinunter auf die Glücklichen, die sich einen klimatisierten Sitz gekauft - und ihn auch bekommen hatten. Denn nicht allen, die wollten, war das Gewinnlos einer präzis betreuten Reise zuteil geworden. Je nun. Was tun?

Faulenzen an Bord, bestens versorgt, wäre möglich. Es gibt aber auch die dem geübten Kreuzfahrer wohl vertraute andere Variante, den "individuellen Landgang". Allein losgehen. Planlos (ein Stadtplan ist aber empfehlenswert, schon damit man rechtzeitig zurückfindet). Ins Blaue hinein tändeln. Ein wenig liederlich bummeln. Ein kühles Kaffeehaus suchen. Vorher einen internationalen Zeitungsstand aufsuchen, was leider nur in großen Städten geht. Die Wildnis fordert andere Verfahren.

Wenig sehen heißt wenig vergessen

Wir Faulpelze erkundeten unser Stückchen Buenos Aires auf jene liederliche Weise. Ließen uns treiben. Suchten Plätze, von denen wir zu Hause vage etwas aufgeschnappt hatten. Fanden welche, andere nicht. Gelassenheit. Abends, wieder an Bord, in einem der uns nun schon vertrauten Lokale des Schiffs hatten wir weniger zu erzählen als die Busfahrer. Aber wir waren uns ziemlich sicher, auch weniger vergessen zu haben, wenn im Mai die Reise um die Welt in 137 Tagen an ihr Ende gekommen sein wird. Schlichte Logik: Was man nicht gesehen hat, das kann man auch nicht vergessen - ein tückischer Satz, ich weiß. (Wer nichts gesehen hat, kann überhaupt nichts vergessen. So wollen wir es denn auch nicht.) Reisen ist nicht einfach. Weltreisen ist richtig kompliziert.

Buenos Aires auf eigene Faust also, kaum ein Wort Spanisch im Kopf. An Bord hatte man uns noch einen kleinen Stadtplan mitgegeben. Am Eingang des Hafen-Terminals warteten Shuttle-Busse. Geschäftsleute boten sie an, die Geldbesitzer vor Geschäften der teuren Sorte absetzen sollten. Ohne Verpflichtung. Wir stiegen ein, wurden ins Zentrum der Stadt gekarrt. Es war bequem. Es stimmte: keine Verpflichtung.

Vorher, noch auf dem Hafengelände, hatte uns plötzlich eine Frage überfallen, die nicht mehr weichen wollte. Wie nennt man einen Bewohner von Buenos Aires? Wie nennt er sich selbst? Bueniter? Airesianer? Hört sich beides blöd an. Aber wer weiß. Der Einwohner von Rio de Janeiro, das hatten wir gelernt, heißt auch nicht Rianer - oder so ähnlich. Er lässt sich "Carioca" rufen. Einer Dame, die uns im Hafen von Buenos Aires in den Shuttle-Bus bat, stellten wir unsere Frage. Mit Mühe. In der Weltsprache Broken English. Sie verstand erst nicht, lachte, besprach sich, immer noch amüsiert, mit einer Kollegin: Porteño! Die Bewohner von Buenos Aires sind porteños.

Liege-Tage eines Flaneurs

Was ist eigentlich ein Münchner?

Das Geld verschwand in den Banken,  die Begegnung mit der realen, globalisierten Welt.

Das Geld verschwand in den Banken, die Begegnung mit der realen, globalisierten Welt.

(Foto: Foto: Podak)

Dass ein Bewohner von München ein Münchner ist, dass es Menschen gibt, die sich Berliner nennen oder Hamburger, konnte die Dame überhaupt nicht begreifen. Denn natürlich hatte sie uns die entsprechende Gegenfrage gestellt. Die Antwort war Auslöser weiteren, südamerikanischen Amüsements. Der individuelle Landgang hatte fröhlich begonnen, lehrreich dazu. Am Abend auf dem Schiff, wo wir mit dem neuen Wissen angaben, konnte niemand, kein Landgänger, kein fest angestellter Landgangratgeber, keine professionelle Landgangbegleiterin, die hinterhältig wiederholte Frage nach dem wahren Namen der Stadtbewohner beantworten: Triumph der Auf-eigene-Faust-Erkunder.

Drei Wahrnehmungen aus Buenos Aires bleiben aufbewahrt im Gedächtnis des unorganisierten Flaneurs. Einmal die Plaza de Mayo, die viel kleiner ist als gedacht. Das ist der Platz, auf dem die Mütter der unter der Militärdiktatur bis Anfang der 80er Jahre verschwundenen Menschen regelmäßig und laut Auskunft verlangten und verlangen über das Schicksal ihrer Angehörigen. Bewegend ein Graffito auf einem Denkmal des Platzes - in der sauberen Heimat des Flaneurs wäre es als denkmalschänderische Schmiererei längst weggeputzt worden: "Gracias madres" - Danke, Mütter! - steht darauf. Der Stadtgang war von Konsequenzen der Politik, von einem Dokument ziviler Tapferkeit eingefärbt worden.

Die Begegnung mit der realen Welt

Vorher höllischer Lärm in der Einkaufsstraße Florida, wo wir abgesetzt worden waren: Männer und Frauen schlugen rhythmisch hämmernd auf die riesigen, metallbewehrten Tore amerikanischer Banken ein. Hinter diesen Türen, das war ihre Botschaft, sei ihr Geld verschwunden. Sie wollten es zurück. Die Banken wurden von Reihen behelmter, mit Knüppeln und Pistolen bewaffneter Polizisten bewacht. Sie unternahmen nichts. Wahrscheinlich, dachte der Flaneur, ist auch ihr Erspartes in diesen Kathedralen des globalisierten Kapitalismus verschwunden. Plötzlich hatte der Weltreisende das Gefühl, hier tatsächlich der Welt begegnet zu sein, die er doch reisend suchen wollte. Einem Teil realer Welt wenigstens.

Drittes, ganz anderes Erlebnis: das "Gran Café Tortoni". In dessen halbdunkler Höhle hatten sich die großen Geister der großen Kultur Argentiniens getroffen, gestritten, sich versöhnt, neu verbündet, Projekte diskutiert und zu verwirklichen begonnen. Die nicht besonders kunstreiche Bronzebüste des Jorge Luis Borges, des auch hier zu Lande verehrten Poeten und Schriftstellers, erinnerte daran. Andere Porträtbüsten waren Künstlern zugedacht, deren Namen dem Flaneur zu seiner Beschämung nichts oder nur wenig sagten. Nein, ein witziges Halbrelief, sprach doch zu ihm. Dargestellt war Carlos Gardel, der König des Tangoliedes. Und mit diesem Bild hatte sich auch diese leidenschaftliche Kunstform Argentiniens im Kopf des Reisenden wieder gemeldet. Es gibt Orte in Städten, die eine Aura entwickelt und bewahrt haben. Das Gran Café Tortoni in Buenos Aires ist einer von ihnen.

Wieder zurück an Bord der MS Deutschland, eine halbe Stunde vor dem Aufbruch aufs weite Weltmeer hinaus, war auch der individuelle Landgänger erschöpft wie jeder organisierte Busfahrer. Nicht besonders viel hatte er vorzuweisen. Es reichte aber, um auf den glänzenden Wassern, die endlich wieder das ganze Blickfeld füllten, ab und zu nachzusinnen über die Frage, die auf der Fahrt immer mitfährt. Sie steckt in dem Wort Weltreise.

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