Tarifa und Tanger:Zwei Träume vom Fliegen

So nah und doch so fern: Das spanische Kitesurf-Mekka Tarifa und das ehemals blühende Tanger in Afrika trennen nur 14 Kilometer. Die Unterschiede sind gewaltig.

Lisa Sonnabend

Sanft heben sich die grauen Felsen vom Meer ab. Mächtig und ruhig wirkt die Bergkette im Norden Marokkos vom spanischem Touristenort Tarifa aus. Nur 14 Kilometer sind es von hier bis nach Afrika, nur eine halbe Stunde benötigt die Fähre, um die Meerenge von Gibralta zu überqueren. Doch Tarifa, den südlichsten Ort des europäischen Festlandes, und Tanger, den einstigen Künstlertreffpunkt in Marokko, trennen Welten.

Das spanische Tarifa ist ein aufstrebender Ferienort. Seitdem die Kitesurfer das Städtchen vor rund zehn Jahren entdeckt haben, hat der Tourismus hier Einzug gehalten. In der Hochsaison sind alle Betten ausgebucht, die Bars überfüllt, die Surfindustrie verdient prächtig.

An 200 Tagen pro Jahr fegt der Wind hier mit bis zu 80 Stundenkilometern durch die Gassen und wirbelt den Menschen Sand in die Augen. Auf den Hügeln steht ein Windrad neben dem anderen. Im August, wenn es in den übrigen andalusischen Ferienorten unerträglich heiß ist, lässt es sich in Tarifa angenehm aushalten. Im Ort gibt es Surf-Shops, Dönerläden und jede Menge Diskos. Abends fahren junge Leute mit offenen Autofenstern durch die Straßen. Tagsüber strömen sie an den Strand. Manche haben einen Lenkdrachen in der Hand, andere eine Bierflasche.

Tarifa - ein zweites Mallorca? Nein, in Tarifa lebt es sich nicht so unbekümmert wie auf der Baleareninsel. Tarifa hat ein Schicksal zu tragen - und dieses Schicksal heißt Afrika. Dies wurde nie so deutlich wie im Sommer 2001, als ein schockierendes Bild um die Welt ging: Ein Flüchtling aus Marokko war an den Strand von Tarifa geschwemmt worden; der Leichnam lag im Sand. Um den Toten herum Touristen, die sich sonnten und sich nicht stören ließen.

Die Flüchtlinge ertrinken bei der Überfahrt, die übervollen Schlauchboote sinken oder werden vom Wind und von der Strömung auf den Atlantik hinausgetrieben. Oft können ihre Passagiere nicht schwimmen. Wie viele Flüchtlinge bei dem Versuch, die Meerenge zu überwinden, gestorben sind, weiß niemand.

Dies ist die traurige Seite eines Ortes, der unbedingt gute Laune verbreiten will. Dies ist die Last, die hier viele verdrängen wollen. Eine Last, die der Wind nicht wegweht. Touristen erwarten von Tarifa Urlaubsstimmung, und Tarifa braucht die Touristen. Es gibt ein Holzkreuz, das an die ertrunkenen Flüchtlinge der Meerenge erinnert. Doch es wurde weit weg vom Strand auf einem Berg in der Nähe der Stadt errichtet. Die Touristen sehen es nicht.

Kevin, ein Arzt aus Dänemark, fährt seit einigen Jahren regelmäßig nach Tarifa. "Nirgendwo sonst in Europa ist Kitesurfen so günstig", sagt der 31-Jährige. Im Ort erkundigt er sich, ob es möglich wäre, für ein ganzes Jahr hierzubleiben und ob dann abends immer noch so viel los sei. Eine Auszeit nehmen, viel auf dem Wasser sein und vielleicht ein wenig in einem Krankenhaus in Tarifa arbeiten, das wäre sein Lebenstraum. Wenn er in der Früh aufwacht, geht er zuerst auf den Balkon, um zu testen, wie die Windverhältnisse sind. Seine Laune richtet sich nach der Kraft des Windes: je stärker, desto besser.

Als eines Morgens überhaupt kein Wind wehte, ist Kevin doch in Kontakt mit Afrika gekommen. Er fuhr mit einer Touristentour nach Tanger hinüber. "Es war interessant zu sehen, wie es in der Dritten Welt ist", sagt er später, als er in einer Strandbar in Tarifa einen Schluck Bier nimmt. Noch einmal möchte er aber nicht hinfahren. Er schaut hinaus aufs Meer. Würde er den Blick ein wenig nach links drehen, könnte er die Lichter aus Afrika hinüberleuchten sehen.

Tarifa ist ein Kitesurf-Mekka. Die Anfänger erkennt man daran, dass ihre Schenkel weiß oder rot unter den Badeshorts hervorleuchten. Sie stehen am Strand, halten das Segel in der Hand und üben, es mit dem Wind zu lenken. Die Profis rasen im Wasser über die Wellen. Erfasst der Wind das Segel im richtigen Moment, springen sie meterhoch, fast scheint es, als würden sie fliegen. Vom Fliegen und der Befreiung von ihrer Armut träumen auch die Afrikaner, die in Tanger auf ihre risikoreiche Überfahrt warten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich die Künstler der Beatgeneration in Tanger tummelten, bevor die Stadt ihren Glamour verlor.

Zwei Träume vom Fliegen

In Tarifa wird auf Plakaten für Tagesausflüge nach Afrika geworben - 55 Euro für die Fähre, eine Busrundfahrt durch die Stadt, Besuche bei Teppichhändlern, Gewürzverkäufern, Schlangenmenschen und ein Mittagessen mit Couscous und Minztee. Auf so einem kurzen Trip ist es leicht, mit Afrika zurechtzukommen, sich seine Urlaubsstimmung zu erhalten. Eindringlicher wird es, man fährt selbst nach Tanger, bleibt über Nacht.

Die Stadt hat eine bewegte Vergangenheit: 1923 wurde sie zur internationalen Stadt erklärt und gemeinsam von Frankreich, Spanien, Großbritannien und später auch von Italien verwaltet. Die Stadt hat damals viele Künstler angezogen. Der französische Maler Henri Matisse ließ sich von Tanger inspirieren. Die Rolling Stones und bekannte Schriftsteller der Beatgeneration lebten zeitweise hier: William S. Burroughs schrieb in den fünfziger Jahren in Tanger sein Buch "Naked Lunch" und auch Jack Kerouac ("Unterwegs") verbrachte viel Zeit in der afrikanischen Stadt. Doch der Abstieg begann bereits, als Marokko 1956 die volle Souveränität zurückerhielt, und Tanger verlor nach und nach seinen sagenumwobenen Ruf von Glamour und Rausch.

Tanger zieht heute vor allem Flüchtlinge an. Eine Million Menschen leben in Tanger, die meisten in ärmlichen Behausungen; die Gewaltrate ist hoch. In den umliegenden Wäldern verstecken und versammeln sich die Flüchtlinge, um eines Tages die Fahrt zum europäischen Festland zu wagen. Auch im Zentrum spürt man abseits der Touristenpfade, dass man nicht mehr in Spanien ist: In den Straßen der Medina verfolgen einen die unerbittlichen Händler. Wenn es dunkel wird, treten die Drogendealer auf die Straße, Prostituierte lehnen an den Mauern.

König Mohammed VI. hat große Pläne für Tanger: In den neuen Mittelmeerhafen MedPort ist eine Milliarde Dollar investiert worden, am alten Hafen soll Platz für Jachten gemacht werden. Es entstehen neue Hotels. Oben auf den Hügeln hat der marokkanische König Mohammed VI. eine riesige Sommerresidenz. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan lässt sich derzeit eine Villa bauen, und auch der Philosoph Bernard-Henri Lévy lebt hier. Das ist das Tanger, das die Touristen kennen, die Armen leben in einem anderen Tanger.

Wenn man die Fähre zurück nach Spanien besteigt, sieht man in der Ferne die Küste von Tarifa, die Berge, die weißen Gebäude - ein ähnlicher Anblick wie Tanger von Spanien aus. So nah und doch so fern. Wie stark der Wind ist, welche Gefahr von den Strömungen in der Meerenge ausgeht, erkennt man nicht. Ob im Meer ein Flüchtlingsboot sein Glück sucht? Aus der Ferne scheinen Spanien und Afrika sehr ähnlich. Es ist nur eine Entfernung von 14 Kilometern, doch sie ist in Wirklichkeit weit größer.

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