Reisebuch:"Keine Stadt für irgendwelche Insider-Scheiße"

Tel Aviv

"Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt" - das ist der Untertitel des Tel-Aviv-Buchs von Marko Martin.

(Foto: Rainer Groothuis)

Marko Martin porträtiert seine Wahlheimat Tel Aviv als Ort der komplexen Wahrheiten, der ohne Chichi auskommt - dafür ist die Lage zu brisant.

Rezension von Stefan Fischer

Wenn Marko Martin es einfach hätte haben wollen, er hätte sich kaum Tel Aviv zur Herzensstadt erkoren. Aber genau das fasziniert ihn wohl an dieser Stadt: ihre Ecken, ihre Widersprüche, ihre Abgründe. Auch wenn er, wie er in seiner literarische Hommage "Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt" an einer Stelle schreibt, die Stadt "zum Hineinmiezeln" findet - "Tel Aviv ist kein Paradies". Er spürt dennoch eine Geborgenheit dort, die viel mit seinem Freiheitsdrang zu tun hat.

Martin ist in der DDR aufgewachsen, er ist mit dem System aneinandergeraten als junger Mann, dem man die Flausen schon austreiben würde. So hat er es zu hören bekommen. Aber nicht mit dem Ende der DDR, sondern erst durch die Ankunft in Tel Aviv habe der Satz eines Stasioffiziers - er, Martin, werde "immer un ewisch Bürger unsrer Deudschen Demogradschen Rrebulik" bleiben -, sein Drohpotenzial verloren.

Es ist ein kluges, vielschichtiges Buch, das Marko Martin originell strukturiert hat in die Kapitel "Meine Hotels", "Restaurants und Kollegen", "Meine Clubs" sowie "Meine Strände". Über Orte und über Menschen erschließt er sich die Stadt, in die er seit inzwischen einem Vierteljahrhundert immer wieder kommt. Keine öde Chronologie all der Aufenthalte, sondern ein Palimpsest: Jede neue Geschichte oder Anekdote überlagert die vorherigen, die aber immer noch durchschimmern.

Die Stadt und ihre Bewohner: ein Sammelsurium aus vertrackten Biografien - und damit voller spannender Geschichten, heiteren wie traurigen. "Keine Stadt für irgendwelche Insider-Scheiße und Distinktion", schreibt Marko Martin; für Chichi ist die Lage zu brisant.

Anfangs irritiert, dass er in der zweiten Person Singular über sich schreibt, über ein Du also, einen Vertrauten, der aber letztlich doch ein anderer ist. Damit erreicht Martin allerdings, dass er sich als Person nicht zu sehr in den Vordergrund spielt. Und es dokumentiert eine Reflexion des Erlebten, das nicht unmittelbar wiedergegeben wird, sondern einer steten Prüfung und Spiegelung unterzogen wird. Weil es keine simplen Wahrheiten gibt, schon gar nicht hier in Tel Aviv. Gleichwohl kann man selbst nicht im Ungefähren bleiben, muss Stellung beziehen zu den vielfältigen Problemen, muss sich auseinandersetzen mit den Menschen.

Ergänzt ist Marko Martins erhellender Text von Rainer Groothuis' Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Stadt, die noch einmal eine eigene Geschichte erzählen über die spezielle Vitalität Tel Avivs. Es sind grobkörnige Aufnahmen, in die man sich vertiefen muss, um allmählich etwas zu erkennen und zu begreifen. Was aber nicht in Stein gemeißelt ist. Gewiss ist nur die Ungewissheit. Deshalb hat Marko Martin hier nach 1989 eine zweite Heimat gefunden.

Marko Martin: Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt. Corso im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2016. 160 Seiten, 28 Euro.

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