Mit dem Rad auf den Bergpass:Warum nur? Darum!

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Nur noch 15 Kehren bis zum Stilfser Joch - mindestens. (Foto: Daniel Hofer)

Was soll so reizvoll daran sein, sich mit dem Rad kurvige und steile Bergstraßen hinaufzuquälen - ohne E-Bike, aus eigener Kraft? Nun: Es ist einfach nur großartig.

Von Sebastian Herrmann

Langsam beruhigt sich der Puls, Glücksgefühle strömen durch den Körper. Die letzten paar Meter auf der Passhöhe verläuft die Straße beinahe eben, das Ziel ist erreicht. Der Radler taucht langsam wieder aus dem inneren Tunnel auf, in den er sich in der vergangenen Stunde zurückgezogen hatte. Er rollt auf das braune Schild zu, auf dem Name und Höhe des Passes vermerkt sind: Penserjoch, 2211 Meter über dem Meeresspiegel. Es knackt, als sich die Schuhe aus den Clickpedalen lösen. Der Radler lehnt sein Rennrad an eine der beiden Stangen unter dem Schild und stakst noch etwas steif in Richtung eines Viehzauns, um nach Süden ins Sarntal zu blicken. Sobald die Anstrengung fehlt, wird es mit einem Schlag frisch hier oben an einem sonnigen, aber windigen Tag in den Bergen Südtirols.

"Bist du den ganzen Pass raufgeradelt?", fragt eine Motorradfahrerin, die gerade ihren Helm absetzt. "Freilich", antwortet der Radler und tut so, als sei das selbstverständlich. "Respekt, das wäre nichts für mich", sagt sie, "da fahr ich lieber Motorrad." "Warum tut man sich so was überhaupt an, hier raufzuradeln?", will ihr Begleiter wissen, der in dunkler Ganzkörper-Motorradmontur neben ihr steht.

Ja - warum eigentlich?

"Weil es super ist", sagt der Radler und gibt damit eine Antwort, die so nichtssagend, so langweilig und banal ist, dass er die ganze Abfahrt hinab ins Tal darüber grübelt, was er stattdessen alles hätte sagen können.

Warum üben Pässe eine magische Anziehungskraft auf Rennradler aus? Weil das Bergauffahren die Königsdisziplin auf zwei Rädern ist, weil sich auf keinem anderen Terrain Schmerz und Glück so nah sind, dass sie sich zu einem emotionalen Sprengstoff vermischen, der zu einem symphonischen inneren Feuerwerk explodiert. Das alles steckte in diesem unzulänglichen "super" auf dem Gipfel.

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Wer behauptet, vor Anstrengung habe der Sportler gar keinen Blick mehr für die Schönheit der Berge, irrt: Wo schmerzverliebte Radler gerne hinaufrollen - und hinab sowieso.

Von Sebastian Herrmann

Unterwegs zum Fuß eines Berges mischt sich Vorfreude stets mit Zweifeln. Wie wird die Auffahrt: ein fröhlicher Sturm gen Himmel oder eine nicht enden wollende Leidensprozession? Ob die Tagesform gut oder mies ist, offenbart sich stets erst im ernsten Test. Die ersten Meter bergauf werden von Stöhnen begleitet: Muss das wirklich sein, wie viele Höhenmeter kommen jetzt, wie steil ist der Pass noch mal? Dann, ganz langsam, öffnet sich eine Tür in einen Raum im Selbst, in dem sich der Radler allmählich einrichtet. Während er im Takt von Treten und Atmen bergan fährt, kommt er bei sich selbst schon unterwegs an - Achtsamkeit in anstrengend, sozusagen.

Es dauert eine Weile, bis er seinen Platz in sich aufgespürt hat. Vielleicht eine Viertelstunde, mal mehr, mal weniger - je nachdem wie schnell er Rhythmus und Tempo findet. Bergauf muss jeder seine eigene Geschwindigkeit fahren: Wer zu langsam ist, stört die Reise in den inneren Tunnel, wer zu schnell tritt, um an einem anderen Radler dran zu bleiben, quält sich nur, um dann zu kapitulieren.

Ist das Tempo aber gefunden und die Beine kreisen stetig auf den Pedalen, ergibt sich der Radler dem Berg. Ist die Tür in den inneren Tunnel geöffnet, verwandelt sich die Fahrt in eine Form schweißtreibender Meditation. Das Ziel ist jetzt immer nur die nächste Kurve, die nächste Kehre oder der nächste Punkt, der einen freien Blick auf die bereits bezwungene Strecke freigibt. Die stetige Bewegung der Beine treibt währenddessen Ohrwürmer aus dem Unterbewusstsein, einzelne Zeilen aus Liedern oder absurde Gedanken in Dauerschleife. Immer und immer wieder tanzen sie im Rhythmus durch den Kopf, als wären sie Teil eines rituellen Zaubers, ohne den diese Steigung nicht bezwungen werden könnte.

Ein schöner Pass hat möglichst viele Kehren. Sie dienen als Zwischenziel, als Verheißung und Oase. Nur bis zur nächsten Kurve, beschwört sich der erschöpfte Radler, nur bis zur nächsten und dann wieder bis zur nächsten. Die spartanische Belohnung in den Kehren besteht darin, dass er für wenigstens einen oder sogar zwei Tritte weniger Druck auf dem Pedal braucht und ein, zwei ruhigere Atemzüge möglich sind. Dann wieder raus aus der Kehre und mit dem nächsten Zwischenziel weiter, immer weiter bergauf.

Zu Beginn der Auffahrt stand das Gefühl, dass dieser Berg niemals enden wird. Doch nach einer Weile staunt der Radler, wenn er ins Tal zurückblickt: So weit schon, so hoch? Die Bäume werden spärlicher, die nackten Felsen mehr und plötzlich ist das Ende in Sicht, die Passhöhe. Einen Berg hinauf zu radeln bedeutet stets, ein kristallklar definiertes Ziel vor sich zu haben: an der Passhöhe wartet der innere rote Teppich. Anfang und Ende lassen keine Fragen zu, anders als in der Ebene - wenn ein Ziel erreicht ist, ginge es dort stets noch irgendwie weiter.

Nicht so am Pass: Dort geht es zwar auch weiter, aber nun bergab. Und so erfüllt den Radler Stolz, ein Stolz, der keine Zweifel zulässt. Natürlich gibt es immer jemanden, der diesen Berg noch schneller, noch leichter, noch entspannter hinauf fahren kann. Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass man es selbst geschafft und diesen Pass aus eigener Kraft bezwungen hat. Das nimmt einem niemand, vor allem können einem das die eigenen Selbstzweifel nicht rauben.

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Die steile Fahrt von Kehre zu Kehre kann eine niederschmetternde Grenzerfahrung sein. Aber im Ziel verwandelt sich diese in eine seelische Aufbaukur.

All das hätte der Radler den beiden Motorradfahrern erzählen können, aber vielleicht ist der Zauber des Bergauffahrens sowieso nur für jene begreifbar, die sich auf dem Fahrrad einem Berg hingeben. Und natürlich: Wer einen Pass hinauf gefahren ist, darf sich auf der anderen Seite des Scheitelpunkts in einen Abfahrtsrausch stürzen.

Was zuvor Überwindung war, ist nun ein Glücksrausch der Geschwindigkeit. Immer wieder weht während diesen oft sehr langen Abfahrten der Gedanke heran: Das bin ich wirklich vorhin alles rauf gestrampelt? Unglaublich!

Aber ich habe es geschafft.

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