Schweiz:Pfeifkonzert am Matterhorn

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Lucy Walker - hier dargestellt von der Berner Schauspielerin Corinne Thalmann - macht sich auf zum Matterhorn. Die Besteigung selbst wird in dem Theaterstück nicht dargestellt, da bleibt Raum für die Fantasie der Zuschauer. (Foto: Hannes Zaugg-Graf)

Die Britin Lucy Walker bezwang als erste Frau den Gipfel und musste sich dabei nicht nur am Berg beweisen. Ein Theaterstück in Zermatt erzählt ihre Geschichte.

Von Peter Linden

Bei Freilichtaufführungen ist das so eine Sache mit der Natur. Da blicken sich zwei Verliebte tief in die Augen, und plötzlich kreist ein Adler und lenkt das Publikum ab. Da küsst sich ein Paar, und aus dem Nichts beginnt es zu regnen. Da versuchen die Schauspielerinnen zu zeigen, wie schwer es die Frauen im 19. Jahrhundert hatten als Zimmermädchen, aber auch als Alpinistinnen - und auf einmal kugeln vier Murmeltiere paarweise den Hang hinunter in Richtung Bühne und erheitern 700 Besucher, die doch jetzt eigentlich betroffen sein sollten angesichts der großen Ungerechtigkeit. So geschehen am 11. Juli bei der Premiere des Stücks "Matterhorn. No Ladies Please!" in 2600 Meter Höhe auf dem Riffelberg oberhalb von Zermatt.

Ein paar Wochen später und 400 Höhenmeter tiefer, im Salon des Luxushotels Riffelalp, lehnt sich die 50-jährige Autorin und Regisseurin Livia Anne Richard zurück in ihrem Fauteuil und sagt nur: "Man muss die Spielvorschläge der Natur akzeptieren." Da ist etwa der Moment, in dem Lucy Walker, die als erste Frau den Gipfel des Matterhorns erreicht hat, angesichts der gewaltigen Felskulisse sagt: "Das Matterhorn, oh Gott, das Matterhorn!" Doch was, wenn Nebel oder Wolken die Kulisse verhüllen? Für solche Fälle hat die Autorin nicht nur dicke Wolldecken fürs Publikum bereitlegen lassen, sondern Extra-Zeilen in ihr Stück geschrieben: "Man spürt seine Kraft sogar, wenn es nicht zu sehen ist."

Das Stück "Matterhorn: No Ladies Please!" erzählt die Geschichte der nur fragmentarisch überlieferten Erstbesteigung des Matterhorns durch eine Frau im Juli 1871. Sechs Jahre zuvor war dies erstmals einem Mann gelungen, dem Briten Edward Whymper. Das Drama um den Absturz von vier Bergsteigern aus seiner siebenköpfigen Seilschaft beim Abstieg ist nicht nur durch Whymper selbst umfassend dokumentiert. Als Livia Anne Richard im Sommer 2015 anlässlich des 150. Jahrestags für die Freilichtspiele Zermatt erstmals am Riffelberg ein Stück namens "The Matterhorn Story" inszenierte, hatte sie keinerlei Mühe, Quellen und Originaltexte zu finden. Die Welt Edward Whympers, die Welt der männlichen, meist aristokratischen englischen Bergsteiger, sie war und ist tausendfach überliefert.

Das Bild aus dem Jahr 1870 zeigt Mitglieder des Alpine Clubs London: Lucy Walker ist stehend abgebildet, rechts neben ihr Melchior Anderegg. (Foto: picture alliance/KEYSTONE)

Aber die Welt der Lucy Walker? "Sie hat absolut nichts publiziert", sagt Richard. Ein Satz, der von Walkers stiller Liebe zu ihrem Bergführer Melchior Anderegg kündet, war immerhin dessen Führerbuch zu entnehmen: "Ich liebe die Berge und ich liebe Melchior. Aber er ist bereits verheiratet." Dieser Satz und die wenigen Zeugnisse in Form zeitgenössischer Darstellungen von Alpinistinnen in ihren langen Gewändern mussten dieses Mal genügen.

Die Theaterautorin baute deshalb rund um die Beziehung zwischen der reichen Engländerin und dem Bergführer, der sie ihr Leben lang begleitete, eine komplexere Geschichte. Darin spielt auch die wissbegierige Lina eine wichtige Rolle. Lina, die Tochter des großen Zermatter Hoteliers Alexander Seiler, ist frei erfunden. Ihr Streben nach Bildung, ihr Wunsch, die Welt außerhalb von Zermatt kennenzulernen, spiegelt sich im Streben der Lucy Walker nach den für Frauen verbotenen Gipfeln. "Wenn eine Frau da raufklettern kann", wettert einer der einheimischen Bergführer im Stück, "dann kann jeder raufklettern. Dann verliert das Matterhorn doch jeden Reiz." Ein Satz, der damals schon falsch war und es heute noch ist.

Auch an diesem Samstagabend dauert es eine Weile, ehe sich die Inszenierung auf Europas höchstgelegener Freilichtbühne emanzipieren kann von der Wucht des ikonischen Bergs. Der Nebelschwaden-Überfall im ersten Akt, der Wolkenschal, den der Gipfel im zweiten Akt umlegt, das rötliche Licht, das ihn ausgerechnet umspielt, als die unerfüllte Liebe zwischen Lucy und Melchior deutlich wird: immer wieder spielt das Matterhorn auf seine unberechenbare Weise mit, meist als Kulisse, zuweilen wie ein monströser Hauptdarsteller.

Besonders deutlich wird dies in den wenigen Augenblicken zwischen dem Aufbruch der Lucy Walker und ihrer Rückkehr nach erfolgreich vollbrachter Tat. Auf der Riffelalp, dort, wo noch heute bergbegeisterte Briten absteigen, "positiv Verrückte", wie Hotelchef Hans-Jörg Walter es formuliert, erklärt die Autorin, weshalb sie erst gar nicht den Versuch unternimmt, die Besteigung selbst im Stück zu zeigen. "Man darf auf keinen Fall in Konkurrenz treten mit dieser wunderbaren Kulisse, man muss Demut zeigen." Und dann sagt sie einen Satz, der den Unterschied deutlich macht zwischen Theater im Theater und Theater in der freien Natur: "Es wäre lächerlich, eine Kletterpartie zu stilisieren auf einem Pappmaché-Matterhorn vor dieser Kulisse."

Also überlässt sie es den 700 Zuschauern, der Lucy Walker hinterherzublicken, während sie sich auf den Weg in Richtung Matterhorn macht. Sie überlässt es den schwarzgrauen Felsflanken des echten Matterhorns, deren Fantasie zu beflügeln, sich die Strapazen des Aufstiegs selbst auszumalen, den Kampf gegen die Kälte, den Kampf um jeden Griff und jeden Höhenmeter, sowie den Bergführer Melchior, wie er die Britin am Seil sichert. Und wie sie beide glücklich und womöglich verliebt den Gipfel erreichen. Als Lucy Walker nur wenige Augenblicke später zurückkehrt auf die Bühne, ist nichts gezeigt und doch alles gesagt.

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Ein bisschen stehen diese Augenblicke für das, was Zermatt heute ausmacht. Ein Versprechen, das notfalls auch die Fantasie einzulösen vermag. Mag sein, dass dort unten die Hotels viel zu eng und viel zu hoch gebaut sind, aber von beinahe jedem Balkon aus lässt er sich erspähen - der Berg. Mag sein, dass die Masten der Lifte und Kunstschneelanzen am Rand der Pisten dem Wanderer im Sommer zuweilen zum Ärgernis werden, doch dann reicht ein kurzer Schwenk mit dem Kopf, und schon steht er wieder da, so ganz für sich - der Berg. Im Hotel Riffelalp, dessen Direktor Walther auf seiner Visitenkarte mit britischem Understatement als "Hüttenwart" firmiert, haben sie sogar die Liegestühle nach dieser Logik platziert. Sie sind nicht dem Pool zugewandt, sondern, um 180 Grad gedreht, dem Matterhorn.

Ob man hier oben eine Theaterinszenierung verfolgt, ein Buch liest oder einfach nur die Kulisse bestaunt, die Geschichten des Berges sind allgegenwärtig. 2500 Menschen steigen jeden Sommer hinauf, man kann sie mit dem Fernglas zur Hörnlihütte defilieren sehen, 3260 Meter hoch, die letzte Stelle, die ein Normalsterblicher ohne Bergführer aufsuchen sollte. Der älteste am Gipfel war über 90 und wurde 104 Jahre alt, der jüngste war acht. Noch immer stürzen auch Menschen ab. Doch seit das wilde Campen verboten wurde, sank die Zahl der Bergtoten auf weniger als zehn pro Jahr. Oft kann Air Zermatt noch helfen, bis zu 25 Alpinisten bergen die Rettungsflieger jährlich aus dem Fels.

Rettungsflüge der Air Zermatt wären so ziemlich das Letzte, was Livia Anne Richard und ihre Schauspieler gebrauchen könnten während einer ihrer beinahe immer ausverkauften Aufführungen. Dies und die Bergwanderer, die vom Gornergrat kommend, womöglich neugierig ins Stück platzen. Doch da die Aufführung meist abends gezeigt wird, sind Helikopterflüge beinahe auszuschließen. Für den Rest sorgen freiwillige Helfer, die, fürs Publikum unsichtbar platziert, den Weg rund um die Freilichtbühne und die Bergwiesen davor weisen. Gleitschirmspringen ist während der Aufführungen ohnehin verboten. Was bleibt, ist die Unberechenbarkeit der Natur. Wenn mal wieder eine Herde Schwarznasen-Schafe die Bühne entert, sind die Helfer machtlos. Ganz zu schweigen von den Murmeltierattacken. Als die Premiere zu Ende war, und der Beifall der Zuschauer dumpf wie ein Wasserfall auf die Darsteller prasselte, da gellte vom Hang zur Linken plötzlich ein Pfeifkonzert.

© SZ vom 08.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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