Gletscher in Patagonien:Im Donnerland

Gletscher in Patagonien: Spektakulär ragen die Eiswände in den Himmel - tintenblau manche, andere grau vom Sediment, das sie vor sich herschieben.

Spektakulär ragen die Eiswände in den Himmel - tintenblau manche, andere grau vom Sediment, das sie vor sich herschieben.

Die Ureinwohner Patagoniens fürchteten das Eis. Heute haben die Chilenen eher Angst, dass es verschwindet. Denn der Gletschertourismus ist zu einem wichtigen Geschäft in dieser windumtosten Ecke der Welt geworden.

Von Monika Maier-Albang

Allein zu sehen, mit welcher Energie sie die Geburtstagstorte für einen Gast in Stücke zerlegt, macht deutlich: Sie ist die Chefin an Bord. So erstaunt es auch nicht, dass Vitalia Noemí Coñuecar Cárcamo, "Doña Mimí", erst einmal einen ihrer Jungs herbeiwinkt, bevor sie zum Gespräch bereit ist. Unterm Tisch liegen noch ein paar Krümel vom Mittagessen. Das geht gar nicht. Also drückt Doña Mimí dem jungen Crewmitglied den Staubstauber in die Hand. Der Staubsauger brummt, die Motoren dröhnen. Draußen liegt ein kalter Fjord unter Wolken, der erst wieder zur Ruhe kommen wird, wenn das Schiff vorbeigezogen ist.

Die Frau ist, so könnte man sagen, die Verkörperung des chilenischen Traums: sich hocharbeiten aus dem Nichts, das Land nach seinen Vorstellungen formen.

Wer will schon am Ende der Welt Eis im Regen sehen? Erstaunlich viele

Aus Deutschland, aus Kroatien, aus England, aus der ganzen alten Welt sind in den vergangenen Jahrhunderten Menschen nach Chile gekommen, um Kriegen zu entfliehen, reich zu werden oder wenigstens ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Doña Mimís Vater war deutscher Abstammung; als seine Vorfahren nach Chile kamen, machte man das Land gerade mit Ochsenkarren urbar. Zu Hause waren sie zehn Geschwister, der Vater hatte eine unverheiratete Schwester, die sich so sehnlich eine Tochter wünschte, dass sie den Bruder um eines seiner Kinder bat.

Noemí, damals neun, meldet sich freiwillig - und wächst von da an bei Fräulein Ana auf. Mit 26 heiratet sie einen Fischer mit griechischen Wurzeln, fängt mit ihm Lachse in den Fjorden, verkauft Holz an die Weinbauern im Norden, teilt die Vision ihres Mannes: Gäste zu den Gletschern bringen. "Alle haben uns damals ausgelacht", sagt Doña Mimí. ",Wer will schon am Ende der Welt Eis im Regen sehen', haben sie gespottet." Und nun begrüßt sie, Constantino Kochifas Witwe, mit ihren 84 Jahren auf ihrem Schiff, der Skorpios III, Gäste aus Australien und Italien, kocht im Winter aus den Beeren eines Myrtenstrauchs, den sie hier Murta nennen, jene Marmelade, die im Sommer an Bord serviert wird, flickt Tischdecken, begutachtet die Kabinen, befehligt das Personal. Und ist in Sorge um die Gletscher, denen sie ihre Gäste verdankt: Amalia-Gletscher, Alsina-Gletscher und all jene, die einst namenlos waren und jetzt nach Mimís Crew benannt sind. Und um El Brujo, den "Schamanen", der krachend und donnernd Eis ins Meer wirft. Besatzungsmitglieder fischen die klirrenden Stücke aus dem Wasser, reichen sie zum Whisky. Wie lange noch?

Patagonien

Doña Mimí führt ein Schiff. Die 84-Jährige bringt ihre Gäste durch Patagoniens beeindruckende Natur.

(Foto: Monika Maier-Albang)

Fernando Huichamán, der Guide, der die Passagiere auf Fußmärschen zu den Gletschern begleitet, zuckt die Schultern. Zehn Jahre, 20 vielleicht. Was soll er auch sagen, er lebt ja von diesen Wänden, die so spektakulär in den Himmel ragen, tintenblau manche, andere grau vom Sediment, das sie vor sich herschieben. Huichamán deutet auf einen Hügel in 20 Meter Entfernung. Bis dorthin reichte das Eis, als er vor zehn Jahren seine ersten Gäste an den Amalia-Gletscher brachte. Heute verliert dieser Gletscher nahezu einen Quadratkilometer Eis pro Jahr - er ist damit einer der am schnellsten schmelzenden Gletscher im Süden Patagoniens. El Brujo hingegen, der Donnernde, ist erstaunlich hartnäckig - er ist seit 1945, als die US Air Force erstmals Luftaufnahmen des südlichen patagonischen Eisfeldes machte, insgesamt nur um einen halben Quadratkilometer geschrumpft.

"Je nach Größe und geografischer Lage verhalten sich die Gletscher hier völlig unterschiedlich", erklärt der Glaziologe Camilo Rada, der für das private Centro de Estudios Científicos in Valdivia forscht. Ein nach Papst Pius XI. benannter, gewaltiger Gletscher im südlichen Eisfeld etwa wächst gegen den Klimawandel an; die Wissenschaftler vermuten, dass ein benachbarter Vulkan damit zu tun hat. Insgesamt gebe es wenig gesicherte Daten über den Klimawandel in der dünn besiedelten Region, sagt Rada. Allerdings weiß man, dass die Gletscher hier vergleichsweise wenig unter der globalen Erwärmung leiden. Die Forscher führen das darauf zurück, dass sehr viel kühles Wasser die Eismassen umgibt. Bedrohlich für die Gletscher ist indes, dass es in manchen Regionen immer weniger regnet - schließlich profitieren sie von dem Niederschlag, der als Schnee fällt.

Die Nackten, die auf den Booten lebten, waren für die Siedler keine Menschen

Die Ureinwohner haben die ins Meer ragenden Eisfelder gefürchtet. Wenn sie sich den Gletschern näherten, dann nur mit bemalten Gesichtern. Man kann sich das vorstellen: die unerklärlichen Geräusche, die merkwürdige, tsunamihafte Bewegung des Wassers, das sich zunächst vom Ufer entfernt, sobald ein Eisbrocken abgebrochen ist, um dann in eine Flutwelle zu münden. Die Kawésqar lebten hier, in den Fjorden zwischen Puerto Edén und Puerto Natales, auf Booten, die sogar Feuerstellen hatten. Die Frauen tauchten nach Muscheln und Krebsen, die Männer fischten mit Speeren. Sie waren perfekt angepasst an diesen unwirtlichen Lebensraum, der im Sommer kühl ist und im Winter eisig, wo Regen und Sonne sich schneller abwechseln, als man die Jacke auf- und zumachen kann. Die Kawésqar trugen keine Kleidung, sie strichen Robbenfett auf die Haut. Ihre Nacktheit war für die ersten Siedler so anstößig, dass sie keine Menschen in ihnen sahen. Die Ureinwohner wurden erschossen, einfach so, weil sie ein leichtes Ziel abgaben. Tausende starben an den Krankheiten der Zuwanderer. Ein paar Hundert Kawésqar haben überlebt. Sie wohnen in der Gegend um Puerto Edén, in Häusern.

Viele der Fotos, die es von ihren Vorfahren gibt und von den anderen Stämmen, die das chilenische Patagonien und Feuerland vor den weißen Siedlern bevölkerten, den Yámana und den Selk'nam beispielsweise, zeigen Menschen mit kurz geschnittenen Haaren, weißen Kleidchen oder Hosen, hinter Zäunen. Priester segnen sie. Die Fotos sind Trophäen der Evangelisierung, geschickt an die Ordensoberen und Spender daheim, als Arbeitsbeleg. Die Missionare boten den Ureinwohnern eine Chance zu überleben. Jedoch zu ihren Bedingungen. In Punta Arenas, der Hauptstadt der Provinz Magallanes, unterhalten die Salesianer ein Museum, in dem das Leben und Sterben dieser Völker mit eindrucksvollen historischen Aufnahmen dokumentiert wird. Nur leider ohne jeden Anflug von Selbstkritik.

Es sind wenige Spuren, die die Ureinwohner hinterlassen haben. Ortsnamen zumeist, wie Villa Tehuelches, ein Dorf, das man auf dem Weg von Punta Arenas nach Puerto Natales passiert, wo das Schiff ablegt. Man fährt durch graugrünes Grasland, in dem langbeinige Guanacos äsen. Hier und da stehen einsame Flamingomännchen im Wasser neben flechtenbehangenen Bäumen, Reste jener Wälder, die noch heute von den Farmern niedergebrannt werden, damit Schafe und Kühe Nahrung finden. Puerto Natales ist der Ausgangspunkt für Exkursionen in den Nationalpark Torres del Paine. Früher hatten hier die meisten Menschen von der Viehwirtschaft gelebt, heute ist der Tourismus Haupteinnahmequelle in der Region. Die ersten Siedler waren Farmer - und Arbeiter einer Schlachtfabrik. Die Fabrik ist heute ein Hotel, und außergewöhnlich ist nicht nur der Blick vom Zimmerfenster durch sturmerprobtes Panzerglas auf den "Fjord der letzten Hoffnung". An der Wand hängt ein Bild, das Hunderte Schafe in einem Pferch zeigt. Die Tiere in der ersten Reihe blicken den Fotografen an - und damit den Gast. Schafe vor dem Schlachten, und das, wenn man einschlafen will - ein Hotel für zarte Gemüter ist The Singular nicht. Aber es ist ehrlich, irgendwie.

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1915 hatte der Bau des damals modernsten Schlachthofes Chiles die Tiertötung industrialisiert: Bis zu 5000 Schafe wurden pro Tag hier geschlachtet, gehäutet, zerteilt, das Fleisch nach Europa verschifft. In den 1970er-Jahren musste die Produktion eingestellt werden, die Fabrik stand leer. 1996 erhoben die chilenischen Behörden sie zum nationalen Denkmal, für das es nun eine Nachnutzung zu finden galt. Seit 2011 kann man in der ehemaligen Fabrik übernachten, die halb Hotel, halb Museum ist. Generatoren, historische Aufnahmen, die Lok, die die Waggons mit Fleisch und Häuten zum Steg zog - alles zu sehen. Zimmertrakt und Spa sind neu, Empfang und Restaurant im alten Teil untergebracht; im Boden sieht man noch die Rinnen, in die das Blut der Tiere floss. Der Küchenchef experimentiert mit Lamm in Seetangsoße.

Heute liegt der Schlachthof in Punta Arenas, jener windumtosten Stadt, in der sie im Sommer Seile zwischen die Laternen auf der Plaza spannen, damit es die Fußgänger nicht wegweht. Die Stadt nennt sich die südlichste der Welt, konkurriert um den Titel aber mit Ushuaia in Argentinien. Schafe werden heute nicht mehr so viele angeliefert, auf den Weiden grasen zunehmend Rinder. "Das bringt mehr Fleisch", sagt Pilayo Lagos. Aber es bringt auch mehr Arbeit.

Alles hier ist nach der Familie Eberhard benannt

Pilayo Lagos ist Gaucho, Baquiano, wie sie hier sagen, auf den Ländereien der Familie Eberhard. Die Eberhards waren die ersten Farmer der Region um Puerto Natales. Alles ist nach der Familie benannt: die Hauptstraße, ein Fjord; eine Lagune nach Tochter Sophia, ein Berg nach Tochter Dorothea. Noch so eine chilenische Erfolgsgeschichte. Hermann Eberhard, geboren in Schlesien, war Kapitän und wurde Farmer. Die chilenische Regierung überließ ihm Zehntausende Hektar Land mit der Auflage, sie urbar zu machen. Eberhards Arbeiter fanden 1895 in der Nähe von Puerto Natales in einer Höhle Fellreste eines ausgestorbenen Riesenfaultiers; eine Plastik des Mylodons wacht heute am Ortseingang über die Stadt.

Dort hat es jetzt, im chilenischen Sommer, sechs Grad, im Wind gefühlt aber unter null. Lagos wischt sich den Schweiß von der Stirn. Gerade ist er von seinem schwarzen Pferd gestiegen, die Rinder sind endlich im Pferch. Die Tiere von den fernen Weiden heimzubringen, hat ihn Mühe gekostet. Die Farmer kreuzen vermehrt Angus und Hereford, die Mischung bringt robuste Tiere hervor, die rasch an Gewicht zulegen, aber vom Wesen her eigenwillig sind. Sie greifen die Hunde an, brechen aus der Herdenformation aus, wollen zurück aufs Grün, nicht auf den staubigen Weg, ins Ungewisse. Auch Tiere haben es nicht leicht in diesem Land.

Informationen

Allgemeines: Die Seite Chile.travel informiert über Reisemöglichkeiten im Land.

Anreise: Ab Frankfurt mit Lan über Madrid und Santiago de Chile nach Punta Arenas, hin und zurück ab ca. 1100 Euro, www.lan.com

Unterkunft: In der ehemaligen Fabrik The Singular in Puerto Bories bei Puerto Natales, Übernachtung mit Frühstück pro Person im DZ ab 310 Euro. Das Hotel organisiert Exkursionen, www.thesingular.com; Costaustralis Hotel, zwei Personen im DZ mit Frühstück ab 240 Euro, www.hotelcostaustralis.com

Reisearrangement: Der Anbieter Windrose hat bei seiner 14-tägigen Reise "Chile für Entdecker" die Expeditionskreuzfahrt auf einem Schiff der Reederei Skorpios im Programm. Die Reise kostet pro Person im DZ ab 5990 Euro.

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