Berliner Fernsehturm:Sankt Walters "Protzstengel" wird 40

Es ist ein Witz der Geschichte, dass der DDR-Prestigebau ausgerechnet am Tag der Deutschen Einheit 40 Jahre alt wird.

Gerhard Matzig

Von der Besucheretage in 203 Metern Höhe (plus 78 Zentimeter) aus, also nur knapp über der weithin sichtbaren, wie ein alter Beton-Ehering aussehenden und beunruhigenderweise als "Evakuierungsbühne" bezeichneten Schaft-Verdickung unter dem Kugelbauch, von dort aus kapiert man erst, wie groß Berlin ist.

Nicht, weil Berlin so ungeheuer groß wäre. Sondern, weil Berlin dort, wo einst ein Schloss stand, Rollrasen verlegt hat. Der Rollrasen aber wurde vor kurzem gemäht. Von einem Stadtgärtner - vermutlich im Liebesdelirium.

Deshalb zeichnet sich nun auf der sonst so exakt manikürten Grünfläche ein gigantisches Herz ab, ein Herz aus schilfartig wucherndem Anarcho-Gras. Das rüstig-ältliche amerikanische Touristenpaar im Fernsehturm hoch über der liebestollen Gärtnerrevolte macht sich darum gegenseitig darauf aufmerksam. Das Paar schaut nicht mehr nach links, Richtung Spittelmarkt, und nicht nach rechts, zum Hackeschen Markt, sondern die Finger deuten auf das Schlossersatzherz, und das Paar juchzt etwas von "Berlin, Stadt der Liebe und der Freiheit".

Man möchte die Hand ans Herz legen und Haltung annehmen. Das Streben nach Glück ist endlich auch in der deutschen Hauptstadt angekommen.

Sehr schade, dass die Staats- und Parteiführung der ehemaligen DDR das nicht mehr mitbekommen hat.

Das höchste Gebäude Berlins und überhaupt Deutschlands - zugleich ist der Fernsehturm mit 368,03 Metern Gesamthöhe eines der höchsten (nicht abgespannten) Bauwerke Europas - wurde am 3. Oktober 1969 eingeweiht. Nach dem Willen seiner Erbauer aus der DDR-Führung sollte er "Telespargel" heißen. Aber amtlich verordnete Spitznamen funktionieren nicht in Berlin, nicht einmal in Ostberlin.

Noch nicht einmal in den sechziger Jahren. Daher wurde er zunächst als "Imponierkeule", als "Protzstengel" oder, zu Ehren des SED-Parteichefs Walter Ulbricht, als "St. Walter" bekannt. Und eine Imponierkeule sollte der Turm ja auch tatsächlich sein.

Es war nur hübsch, dass man mit der Keule, die den Westen einschüchtern sollte mit Hilfe ihrer Gigantomanie, Ästhetik und Ingenieurskunst, auch noch die Wahrheit oder doch das, was man darin sehen wollte, in den Äther schicken konnte. Das zweite Programm des DDR-Fernsehens (in Farbe!) ging gleichfalls vor genau 40 Jahren auf Sendung.

Doch das war eher sekundär. Der Turm sollte vor allem ein Turm sein. Ein Riese, ein Gewaltakt, ein Symbol der Überlegenheit.

Der Fernsehturm in Berlin, spektakulär konstruierte Schauarchitektur durch und durch, war das Abbild des Kalten Krieges.

Das Kriegerische wird wegfotografiert

Fernsehtürme wurden in aller Welt viele errichtet in der technikbegeisterten Nachkriegszeit. Manche sind noch ehrgeiziger als der Turmbau zu Berlin ausgefallen: Der CN Tower in Toronto endet bei 553 Metern, der Ostankino Fernsehturm in Moskau berührt 540 Meter und der Radio & TV Tower in Tianjin überragt die Erektion am Alexanderplatz immer noch um knapp 50 Meter.

Aber nirgendwo auf der Welt dominiert ein Fernsehturm so sehr die Mitte der Stadt. Der Turm in Berlin steht am Rande des mittelalterlichen Stadtkerns und im Zentrum der großen Sichtachsen.

Der DDR-Bau des Utopismus ist die Spinne im Netz. Kein Wunder, dass der sich auf den Boden duckende Zugangspavillon, der einen horizontalen Gegenakzent zur steil aufschießenden Vertikalität formuliert, mit aggressiv zugespitzten Betondornen bewehrt ist. Die Militanz des gesamten Bauwerks hat aber bis heute 50 Millionen Gäste aus aller Welt nicht davon abgehalten, die Keulenpose zu besichtigen.

Es ist eines der wichtigsten Wahrzeichen der Stadt geworden - das Kriegerische, sowohl der Form wie auch der Intention nach, wurde dem Turm einfach wegfotografiert.

Wie ein merkwürdiger Scheinriese ragt der Fernsehturm nun zwischen dem Bahnhof am Alexanderplatz und dem Marx-Engels-Forum in die Höhe. Je näher man ihm auch kommt: Er wird weder größer, noch kleiner. Seltsam. Das Aluminiumgeglitzere der facettierten, daher an einen Golfball erinnernden Kugel, besetzt von Positionslichtern und Sendeanlagen, von Telecafé und Aussichtsebene hinter den beiden kupferfarbigen Fensterbändern, bleibt Teil des Himmels über Berlin. Unwirklich.

Nicht einmal die alberne Verkleidung als Fußball während der WM 2006 konnte dem Pathos der Kugel etwas anhaben. Selbst die mehr als einhundert Meter hohe Spitze, ein rot-weißer Kamin, der wie ein anorektisch in die Länge gezogener Leuchtturm auf Sylt aussieht, kommt gegen die Präsenz der Kugelgestalt nicht an.

Es ist, als wollten die DDR-Baumeister seinerzeit andeuten, man könne die Erde jederzeit zur Käsekugel machen und aufspießen, wenn man den sozialistischen Kräften nur freien Lauf ließe.

Doch von dieser Verheißung ist in all den Jahren als alternde Drohgebärde nicht viel geblieben.

Zeitreise in einer Stunde

Den Eingang zum Turm muss man suchen, er verbirgt sich hinter einem Fitnesscenter, hinter dem Zugang zu einer Nachrichtenagentur und hinter dem mit Senf beschmierten, an drei Tesastreifen baumelnden Zettel "Der Eingang ist auf der anderen Seite". Ein Fahrradverleih wohnt auch hier, nennt sich aber Bike Rental.

Legt man den Kopf in den Nacken und starrt entlang dem massiven, sich nach oben hin verjüngenden Schaft hinauf, dann sieht die Imponierkeule mit einem Mal aus wie abgepusteter Löwenzahn.

Im Inneren des Pavillons gibt es Souvenirs zu kaufen. Die Keule dient als Wackelturm, als Anstecknadel oder als Parfum ("Breath of Berlin"). Der Kalte Krieg duftet jetzt nach Zitrone, Pfirsich und, ja, nach etwas Schokolade.

Der Lift wird von Herrn Otto bedient. Er ist seit fünf Jahren im Einsatz, rauf und runter, zwei Mal, sagt er, sei der Lift in diesen Jahren steckengeblieben. Statistisch sei das zu vernachlässigen. "Keine Bange". Während sich der Lift leise sirrend in Bewegung setzt, macht Herr Otto präzise Angaben zur Geschwindigkeit des Liftes, zur Höhe des Turms - und möchte dann wissen, wie viele Meter der Lift in einer Sekunde zurücklegen kann, "na?"

Keiner sagt was, man will hier nicht rechnen, sondern gucken. "Ui, der neue Hauptbahnhof!" "Da, die schwangere Auster!" "Das Bundeskanzleramt!" "Eine Synagoge!" "Die Müggelberge!" "Die was?"

Wenn an diesem Wochenende der 40. Geburtstag der Ex-Keule gefeiert wird, kann man sich im sacht drehenden Restaurant über der Aussichtsebene bewirten lassen: "mit einer Speisen- und Getränkeauswahl der damaligen Zeit", wie es auf der Fernsehturm-Homepage heißt. Wie könnte das schmecken?

"Um die Zeitreise abzurunden, werden wir auch den Service im Restaurant wie damals gestalten. Das bedeutet, dass Sie an den Tischen platziert werden und genau eine Stunde Zeit haben, um die Aussicht und unser (aus Servicegründen eingeschränktes) kulinarisches Angebot zu genießen."

Nach sechzig Minuten wird man demnach gepackt und vom Platz geschoben.

Gute alte Zeit.

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