Am Stiefelabsatz von Italien:Armes reiches Gallipoli

Der südliche Zipfel Apuliens liegt ziemlich weit weg von allem. Was für ein Glück! In der Kleinstadt Gallipoli treffen Besucher auf ein erstaunlich unverfälschtes Stück Italien - arm und doch voller Grandezza.

Helmut Luther

Als Giancarlo Fuschi vor einigen Jahren die morsche Holzdecke im Salon seines Palazzos inmitten der Altstadt von Gallipoli entfernen ließ, staunte er nicht schlecht: Dahinter verbarg sich ein Freskenzyklus aus dem 16. Jahrhundert, das Werk wird einem anonymen Meister aus Lecce zugeschrieben. Fuschi beseitigte noch andere bauliche Verschandelungen der vergangenen Jahrhunderte, und zum Vorschein kamen weitere Schätze: unter anderem kostbare Majolika-Fliesen und ein katalanisches Portal aus der Zeit der spanischen Vizekönige.

Damals begann auch der Kampf mit der regionalen Denkmalbehörde. "Nach zahllosen Gesuchen musste ich schließlich alle Restaurierungsarbeiten aus eigener Tasche bezahlen. Ich bin ein einfacher Mensch, mir fehlen wohl die richtigen Verbindungen", sagt Fuschi, ein dünner, klein gewachsener Mann Anfang fünfzig, mit ergrauten Haaren und einer randlosen Brille. Er ist in Gallipoli geboren und hat die meiste Zeit seines Lebens in der 21.000 Einwohner zählenden Stadt verbracht. Um den Palazzo erhalten zu können, der sich seit Generationen im Familienbesitz befindet, verwandelte der Hausherr zwei Stockwerke in eine noble Frühstückspension. "Sämtliche Einnahmen fließen in das Gebäude zurück", sagt Fuschi.

Lebensaufgabe für einen Ästheten

Beim Rundgang durch das riesige Ensemble wird schnell klar, dass hier ein Ästhet seine Lebensaufgabe gefunden hat. Fuschis Vorfahren müssen manische Sammler gewesen sein. Über geschwungene Treppen und endlose Flure gelangt man in Gemächer, jedes so groß, dass darin bequem eine Familie wohnen könnte. In Wandschränken sind Preziosen ausgestellt: eine historische Waffensammlung, Medaillons in unterschiedlichsten Farben und Größen, hölzerne Statuen sowie Masken, die sein Großvater aus Afrika mitbrachte. Oder winzige, liebevoll bemalte Heiligenfiguren aus Pappmasché - eine lokale Tradition. "Wenn ich an einem Ende mit den Instandhaltungsarbeiten fertig bin, muss ich am anderen wieder von vorne beginnen", seufzt Giancarlo Fuschi und fügt mit einem sauren Lächeln hinzu, dass er sich manchmal wie Sisyphos fühle.

Erinnerungen an die griechische Sagenwelt sind in Gallipoli naheliegend. Schließlich wurde die Stadt laut Überlieferung vom kretischen König Idomeneus gegründet, der hier nach dem Trojanischen Krieg eine Zufluchtsstätte fand. Und nicht nur der schöngeistige Pensionsbesitzer Fuschi residiert in einem Haus voller Geschichte.

Die ganze Altstadt ist ein Museum - ein höchst lebendiges allerdings, noch so unverfälscht, wie man es im touristischen Salento am Absatz des italienischen Stiefels nicht erwartet hätte. Wie ein weißer steinerner Schiffsbug ragt "die schöne Stadt" (kale polis), wie sie die Griechen nannten, im Süden der Region Apulien ins azurblaue Ionische Meer hinaus.

Viele Herrscher hinterließen ihre Spuren

In mehr als 2500 Jahren hat Gallipoli zahlreiche Herrscher kommen und gegen gesehen: nach den Griechen kamen Römer, Goten, Normannen, Spanier, Franzosen, alle hinterließen ihre Spuren. Beim Bummel durch das Gassenlabyrinth fallen Patrizierresidenzen mit Gitterfenstern im arabischen Stil auf, sie sind aus gelblichem Tuffstein gehauen, der Pietra Carparo des Salento, aus dem auch die großartigen Barockkirchen von Lecce erbaut wurden. Es gibt zahlreiche mit Putten, Engel- sowie Heiligenfiguren vollgestopfte Kirchen und Klöster. Einige Gebäude, etwa die Kathedrale St. Agata, sind mustergültig renoviert. Nicht wenige bröseln mit vernagelten Fensterfronten vor sich hin.

Am Abend beleben sich die Gassen

Bei so viel vergangenem Glanz ist es kein Wunder, dass den Gallipolianern der Sinn für ein stilvolles Auftreten offenbar angeboren ist. Perfekt geschminkte Signoras stöckeln auf hohen Absätzen über die Via A. De Pace - wie sie das derart elegant hinkriegen, bleibt angesichts des speckigen Pflasterbelages rätselhaft. Das Reich ihrer Mütter und Großmütter bilden hingegen die Bassi, kavernenartige, ebenerdige Altstadtbehausungen, deren Türen immer geöffnet bleiben.

Wo Italiens Stiefelabsatz glänzt: Heimelige Halbinsel Salento

Am Hafen von Gallipoli bessern Fischer ihre Netze aus.

(Foto: dpa-tmn)

Die Bewohnerinnen scheinen für das Essen zu leben, von früh bis spät entströmt den Bassi der Duft frisch zubereiteter Speisen. Am Nachmittag thronen die Matronen breitbeinig auf Stühlen vor den Eingängen, um aus dem Augenwinkel das Geschehen ringsum zu beobachten. Meist passiert nicht allzu viel, erst gegen Abend, wenn die Jüngeren von der Arbeit zurückkehren, wird sich die Szene beleben. An Häuserecken, wo sich die Gassen treffen, leuchten elektrische Kerzen in Heiligennischen. Einige vorbeihuschende Alte bekreuzigen sich und pressen anschließend ihre Finger zum Luftkuss an die Lippen.

Nur ein kleiner Bevölkerungsteil verdient am Geschäft mit den Besuchern. Es gibt im historischen Stadtkern kaum Restaurants oder Souvenirshops. Stattdessen Tante-Emma-Läden und kleine Handwerksbetriebe. Am lautesten geht es in einer Bar hinter dem Porto Vecchio zu, dem alten Fischerhafen, die gleichzeitig als Lottobüro dient. Der Weg dorthin führt an einer staufischen Festungsruine vorbei, an Barockpalästen mit matt schimmernden Fassadenreliefs. Am Kai dümpeln Fischerboote, es riecht nach Salz und Tang, magere Katzen umkreisen übervolle Mülleimer.

"Wir fangen nichts mehr, überhaupt nichts"

Unter Sonnensegeln dösen die Bootsbesitzer, einige haben vor sich Tischchen mit Naturschwämmen zum Verkauf aufgestellt, die Nachfrage hält sich in Grenzen. Andere hocken in Gruppen auf niederen Holzschemeln und reparieren die Netze. Das geschieht blitzschnell mit Hilfe einer Plastiknadel, wie Kilometerwürste türmen sich im Rücken der Männer die aufgerollten Nylongewebe übereinander. "Wir machen das nur, um in Übung zu bleiben", brummt der Wortführer, ein Kerl, dessen Kugelbauch unter einem fleckigen Unterhemd hervorquillt, zwischen seinen Lippen steckt eine Zigarette. "Wir fangen nichts mehr, überhaupt nichts. Das Ionische Meer ist leer! Und jenen Rest, der in unseren Netzen hängen bleibt, schnappen die Delphine weg." Die Politiker müssten helfen, aber was wolle man von denen erwarten, es seien alles Diebe, sagt der Mann, "Ladroni". Seinen Namen möchte er lieber nicht nennen: "Hier regiert die Mafia."

Manches scheint in Gallipoli nicht optimal zu laufen. Am Lungomare stehen Kapellen, sie haben schon bessere Zeiten gesehen. Warum es so viele sind, erklärt Giancarlo Fuschi: "Unsere Stadt ist durch den Handel mit Olivenöl reich geworden." Jahrhundertelang bildete Gallipoli den wichtigsten Umschlaghafen für das als Lichtquelle in Lampen verwendete Öl. Handelsgesellschaften aus ganz Europa hatten hier Niederlassungen, davon profitierten adelige Grundbesitzer, aber auch die Hafenarbeiter, Fassbinder und Ölmüller, die sich seit dem 18. Jahrhundert in Bruderschaften organisierten.

Energiestrom aus dem Olivenbaum

gallipoli italien

Apulien liegt am "Stiefelabsatz" von Italien.

(Foto: SZ Grafik)

Den erworbenen Wohlstand stellte man durch private Protzbauten, Kapellen oder Versammlungshäuser zur Schau, die mit teuren Majolikafliesen geschmückt waren. Es sei jammerschade, dass die Touristen nicht einmal ahnen, welche Kostbarkeiten sich in Gallipoli verbergen, meint Giancarlo Fuschi. "Etwa die historischen Ölmühlen, aus Platzmangel hat man sie unter den Altstadthäusern in den Tuff gegraben." Es sollen Dutzende sein, einige stammen sogar aus prähistorischer Zeit. Aber Fuschi gibt sich keinen Illusionen hin: "Für die nötigen Restaurierungsarbeiten fehlt das Geld."

Am schmalen städtischen Strand treffen sich jene, die Zeit im Überfluss haben: braungebrannte Rentner, die ihre Campingstühle mitgebracht haben, und viele Junge. Die Arbeitslosigkeit ist hoch in Gallipoli, wie in der ganzen Region, beinahe jeder Zweite der unter Dreißigjährigen hat keine regelmäßige Beschäftigung. Nach Süden hin erstrecken sich mehrere sichelförmige Buchten, kilometerlange, menschenleere Strände.

Geblendet vom gleißenden Licht, kneift man unwillkürlich die Augen zusammen, wenn man dort am schmatzenden Meersaum zwischen Holzstämmen, angeschwemmtem Seegras und Plastikmüll entlanggeht. Auf Felskanzeln kleben die Überreste von Wachtürmen, wie andere Hafenstädte litt Gallipoli unter Überfällen. Landeinwärts auf roter, steiniger Erde dehnen sich Olivenhaine aus.

In einem steht Donato Guarrieri vor einem gemauerten Brunnen und versucht, eine uralte Dieselpumpe anzuwerfen. Der Brunnen reiche etwa sechs Meter hinab, in der Tiefe sammle sich das Grundwasser auf einer Lehmschicht, erklärt der stämmige Bauer, der Herr über 20 Hektar mit Olivenbäumen ist. Es sind knorrige, bizarr verwachsene Stämme, in einigen klafft ein mannsdicker Riss, als hätte ein Riese mit seiner Axt zugeschlagen. In den silbrigen Blättern hängen die fast reifen Früchte. Ende November, Anfang Dezember beginnt die Ernte, sie dauere dann bis Mitte Februar, sagt Guarrieri. "Wir haben hier genügend Wasser, es reicht zur Versorgung unserer Gärten und Felder, man kann es auch problemlos trinken", behauptet er und bietet eine Kostprobe aus dem Brunnen an.

Dann erzählt er noch, dass sich hin und wieder Touristen auf seinen Acker verirren. "Manche umarmen die Bäume, weil sie angeblich deren Energie spüren." Er selbst wäre schon zufrieden, wenn die Leute sein kaltgepresstes Olivenöl zu einem anständigen Preis kauften - und nicht das gepanschte Zeug von Billiganbietern.

Informationen:

Anreise: Mit Air Berlin nach Brindisi; www.airberlin.com, mit Tuifly nach Bari, www.tuifly.com, hin und zurück ab ca. 150 Euro; weiter mit dem Mietwagen, eine Woche ab 138 Euro, www.autoeurope.de

Unterkunft: B&B Insula im Palazzo Balsamo bei Giancarlo Fuschi; DZ 60-150 Euro; Tel.: 0039/833201413; www.bbinsulagallipoli.it Hotel Palazzo del Corso, DZ ab 200 Euro, Tel.: 0039/833264040; www.palazzodelcorso.it

Weitere Auskünfte: www.comune.gallipoli.le.it, www.pugliaturismo.com, www.prolocopuglia.it

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