Big Bens Glockenturm steht schräg:Der Schiefe Turm von London

Er neigt sich noch lange nicht so weit wie der Turm von Pisa. Doch Londons Wahrzeichen steht nicht mehr senkrecht - und kippt seit acht Jahren etwas schneller zur Seite. Über die Ursache sind sich die Experten nicht einig.

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(Foto: AP)

In Großbritannien ist zuletzt einiges aus dem Lot geraten: Die Volkswirtschaft lahmt, die Gesellschaft ist laut Premierminister David Cameron "kaputt", und im Königshaus läuft auch nicht immer alles rund. Jetzt schwächelt sogar das Symbol der einstigen Weltmacht schlechthin: Der Turm von Big Ben, zu Zeiten scheinbar unumstößlicher Machtfülle des britischen Empires 96 Meter hoch in den Himmel über der Themse ragend erbaut, ist in Schieflage geraten. Ein entsprechendes Gutachten musste die Regierung nun auf Druck des Sunday Telegraph veröffentlichen. Die gusseiserne Spitze des Glockenturms befindet sich bereits etwa einen halben Meter nordwestlich des Mittelpunkts am Boden, ergab das Gutachten. Der Winkel, in dem sich der Turm neige, betrage derzeit 0,26 Grad. Das sei schon mit dem bloßen Auge sichtbar, sagt der Bauexperte John Burland, der mit den Statik-Messungen betraut ist. Die Neigung ist allerdings längst nicht so drastisch wie etwa beim Schiefen Turm von Pisa, der um mindestens vier Grad, nach Burlands Angaben sogar um fünf Grad, aus dem Lot hängt.

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(Foto: Reuters)

Nach Auffassung der Experten bedeutet die Messung in London erst einmal Entwarnung. Bis der Turm mitsamt der 17 Tonnen schweren Glocke Big Ben ins Kippen gerät, vergehen noch mindestens 4000, vielleicht auch 10.000 Jahre - wenn vorher nichts dagegen getan wird, wofür die Zeit reichen sollte. Über die wahren Gründe für die Schieflage wird bisher nur spekuliert. Eine mögliche Variante: Dem Turm wurde langsam aber sicher der Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht nur die Kanalisation entlang der in unmittelbarer Nähe vorbeifließenden Themse könnte eine Rolle spielen. Östlich des Turms haben die Tunnelbauer die U-Bahnschächte immer wieder vorangetrieben. Westlich wurde der Boden wegen des Baus eines Parkhauses für die Abgeordneten und Bediensteten des britischen Parlaments ausgehöhlt.

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Dagegen spricht allerdings: Die angrenzenden Gebäude weisen keine ähnlichen Setzungen auf. "Der Grund der Ausgangsneigung ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Bautätigkeit in der Nähe", sagte Burland. "Es ist viel wahrscheinlicher, dass die Neigung schon beim Bau der Fundamente auf unebenem Untergrund zustande kam." Die Wissenschaftler rätseln jetzt darüber, was einen neuen Schub ausgelöst haben könnte. Dass der Turm nicht ganz im Lot ist, war bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Aber etwa im Jahr 2003 muss es irgendein Ereignis tief im Erdboden gegeben haben, das den Prozess beschleunigt haben könnte. Deswegen wird der schrittweise Ausbau der Jubilee Line, der neuesten U-Bahn-Linie Londons, als mögliche Ursache ins Feld geführt. Die Jubilie-Line war zum Silbernen Thronjubiläum von Queen Elizabeth II. im Jahr 1977 geplant worden. Im nächsten Jahr, wenn die Queen seit 60 Jahren auf dem Thron sitzt, steht das Diamantene Jubiläum an. Vielleicht ist die Schieflage des Big Ben ja auch nur eine britisch-vornehme Verneigung. Michael Donhauser, dpa Seit 152 Jahren schlägt "Big Ben" im Glockenturm des Palastes von Westminster - mehr Bilder und Hintergründe finden Sie auf den folgenden Seiten.

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(Foto: N/A)

Der Eiffelturm steht für Frankreich, die Freiheitsstatue für New York, das Taj Mahal für Indien - bei vielen Ländern auf der Welt genügt oft ein einziges einprägsames Bild, das die Mehrheit der Erdbewohner gleichsam im Reflex der jeweiligen Nation zuordnen kann. Aber nur Großbritannien kann von sich behaupten, durch eine Reihe von Tönen allgemein erkennbar symbolisiert zu werden.Gemeint sind freilich nicht die Strophen der Nationalhymne "God Save The Queen", sondern die vier Töne, mit denen sich Big Ben zuverlässig alle fünfzehn Minuten zu Wort meldet - ding dong ding dong, ding dong ding dong, in gis, fis, e und b.Foto: Reuters

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2009 jährt es sich zum 150. Mal, dass die Uhr im Glockenturm des Palastes von Westminster zum ersten Mal schlug. Seitdem sind Turm, Uhr und Glockenschlag weltweit zum vermutlich bekanntesten musikalischen Signal aller Zeiten geworden - millionenfach kopiert in unzähligen Standuhren, Weckern und neuerdings Klingelsignalen auf dem Handy: Zum Jubiläum erhielten Mobiltelefonierer als Geschenk das Recht, sich den Big-Ben-Schlag als Ringtone kostenlos herunterzuladen. Foto: Reuters

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Kaum ein Handynutzer freilich dürfte wissen, dass die Melodie Teil einer Arie von Georg Friedrich Händels Oratorium "Der Messias" ist, aus dem auch der andere populäre Handy-Ohrwurm "Halleluja" stammt. "Diese ganze Stunde lang, Herr, sei mein Führer", lautet der Arientext passend zum Glockenschlag, "Und dank deiner Macht soll kein Fuß ausgleiten."Die frommen Bürger des viktorianischen Englands vergaßen auch über ihren technischen Errungenschaften nicht die Demut vor Gott.Foto: Getty Images

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Und eine bahnbrechende technische Errungenschaft war die Uhr tatsächlich, als sie am 11. Juli 1859 zum ersten Mal die Zeit verkündete.Ein Durchmesser von sieben Metern machte das Zifferblatt für Jahrzehnte zum größten Zeitgeber der Welt; die Minutenzeiger haben eine Länge von 4,3 Metern, die Stundenzeiger sind 2,75 Meter lang - was zur Folge hatte, dass sich der erste, aus Schmiedeeisen gegossene Satz als zu schwer für eine volle Umrundung erwies und durch eine ausgehöhlte leichtere Variante ersetzt werden musste.Foto: Reuters

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Ein knapp vier Meter langes und 300 Kilogramm schweres Pendel schwingt alle zwei Sekunden und machte Big Ben zu einer der akkuratesten Uhren der Geschichte. In einem ganzen Jahr weicht sie nur an 18 Tagen um eine Sekunde von der richtigen Zeit ab.Heute wird Big Ben dreimal in der Woche von einem Elektromotor aufgezogen. Bis 1913 freilich erledigten zwei kräftige Männer diese Aufgabe, für die sie jeweils 32 Stunden brauchten. Die Feinabstimmung erfolgt nach wie vor wie seit anderthalb Jahrhunderten durch Auflegen oder Entfernen von Münzen. Ein alter Kupferpenny, von denen ein kleiner Stapel neben dem Pendel aufbewahrt wird, beschleunigt oder verlangsamt den Zeitmesser um exakt 0,4 Sekunden pro Tag. Das macht aus Big Ben zwar keine Atomuhr, aber dennoch einen ziemlich präzisen Zeitmesser.Im Treppenaufgang, Foto: Reuters

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Bis Uhr und Glocke freilich zum allgemeinen Stolz der Nation fertiggestellt waren, verging eine lange Zeit, die erfüllt war von Fehlschlägen, Pannen, Streitigkeiten, Beleidigungen und Gerichtsverfahren.Der Hauptgrund der Verstimmungen lag darin, dass sich der Architekt des neuen Parlamentsgebäudes, Charles Barry, und der Uhr-Designer Edmund Beckett Denison auf den Tod nicht ausstehen konnten.Foto: AP

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Denison, ein Anwalt, der im Eisenbahn-Boom des 19. Jahrhunderts sein Vermögen gemacht hatte, war lediglich ein begabter Amateur, was das Chronometer-Handwerk betraf. Dennoch setzte er sich gegen den Uhrmacher der Königin durch und zog für sich und den renommierten Uhrmacher Dent den Auftrag für die Uhr an Land. Den ersten Rückschlag erlitt das Projekt, als die erste Glocke sprang, noch bevor sie im Turm aufgehängt werden konnte.Aber auch mit der zweiten Glocke, die von einer Gießerei im Ostlondoner Stadtteil Whitechapel gegossen wurde, waren nicht alle Bürger glücklich.Foto: dpa

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Die Abgeordneten unten im Unterhaus fanden sie zu laut, und ein gewisser Thomas Walesby bemängelte in einem Leserbrief an die Times, dass ihr Klang zu wünschen übrig lasse - "er lässt Gravitas vermissen, Macht und kräftigen Ton", schrieb er vorwurfsvoll. Ein paar Wochen nach der Inbetriebnahme von Big Ben - ihren Namen verdankt die Uhr aller Wahrscheinlichkeit nach dem damaligen Minister für öffentliche Arbeiten, Sir Benjamin Hall - kam es zur nächsten Panne: die Zeiger blieben stehen.Foto: AP

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Flugs schob Architekt Barry alle Schuld dem Uhrmacher zu: "Mister Denison, und er allein, ist verantwortlich für diese Zeiger", tobte er. Denison holzte, ganz und gar nicht nach Art eines Gentleman, zurück. Das ganze von Barry hochgezogene Parlamentsgebäude, so erinnerte er in einem Brief süffisant die Leser der Times, habe dreimal so viel gekostet wie veranschlagt und sei "voll von Schnitzern und Ungereimtheiten", welche den genauen Gang seiner Uhr beeinträchtigten.Foto: Getty Images

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Als dann auch noch der Hammer die zweite Glocke springen ließ, wurden die Gerichte eingeschaltet - schließlich ging es um viel Geld: Uhr und Glocke verschlangen die für damalige Verhältnisse ungeheure Summe von 4080 Pfund Sterling. Händeringend schaltete sich das Haupt- und Intelligenzblatt der Nation selbst ein: "Was soll man mit dieser Glocke von Westminster machen", seufzte die Times. "Das entwickelt sich zu einer ernsten Angelegenheit, denn ganz England wird kompromittiert." Erst drei Jahre später war die Glocke so weit repariert, dass sie wieder klang - wenn auch leicht verstimmt: Ein klares E bringt sie nicht mehr zustande.Foto: AP

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Seitdem aber lief die Uhr weitgehend reibungslos. Den ersten und bislang einzigen mechanischen Zusammenbruch erlitt sie 1976.In einem Punkt aber hatte die Times recht: Die Uhr im Parlament verkörperte von der ersten Stunde an ganz England, und rasch auch das Empire. Big Ben wurde zu einem der bedeutendsten Symbole britischer Macht in den Kolonien und anderswo. Als 1924 die BBC zu senden begann, trug sie die Bongs von Big Ben in alle Teile des Königreiches und bald in alle Welt. Im Zweiten Weltkrieg legte die ganze Nation jede Nacht eine Schweigeminute ein, wenn Big Ben neun schlug. Und als sich die BBC 1960 erdreistete, nicht mehr alle Glockenschläge in voller, epischer Länge ausstrahlen zu wollen, kam es beinahe zu einem Volksaufstand.Foto: dpa

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Nicht alle Briten empfanden Sympathie für die Uhr der Nation. Die Schriftstellerin Virginia Woolf etwa beschrieb düster, wie sich Big Bens "bleierne Kreise in der Luft auflösen". Und 1956 war es, als der Schauspieler Rodney Bewes und ein Freund beschlossen, die Würde Big Bens ein wenig anzukratzen. Gemeinsam erkletterten sie ein Gerüst bis hinauf zum Zifferblatt, um ein besonderes Accessoire zu befestigen: Von den Zeigern baumelten zwei Unterhosen. (W. Koydl, SZ vom 11.7.2009/kaeb) Virginia Woolf, Foto: dpa

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