Reaktorsicherheit
Warum das AKW Saporischschja vorerst sicher ist
Es hätte schlimmer kommen können: Das Atomkraftwerk Saporischschja liegt mitten an der Frontlinie der Kämpfe im Süden der Ukraine und ist deshalb aus Vorsicht bereits im September 2022 heruntergefahren worden. Fünf Reaktorblöcke sind ausgeschaltet, nur einer wird noch warmgehalten, um Strom für den Standort zu liefern. Deshalb ist der Bedarf an Kühlwasser erheblich niedriger als in früheren Zeiten, als das Kraftwerk ein Fünftel des ukrainischen Stromverbrauchs abdeckte. Trotzdem braucht Europas größtes Kernkraftwerk weiterhin Wasser. Bislang speiste sich das Kühlsystem des Kraftwerks hauptsächlich aus dem aufgestauten Dnjepr. Der Dammbruch ist deshalb ein Problem:
Warum die Lage nach Ansicht von Behörden und Experten dennoch beherrschbar ist.
Wozu braucht das Atomkraftwerk Wasser?
Atomkraftwerke brauchen Frischwasser hauptsächlich zur Kühlung. Im sogenannten Hauptkühlprozess werden die Brennelemente und Kondensatoren gekühlt. Das ist auch bei einem abgeschaltetem Kraftwerk der Fall: Auch wenn hier keine Kernspaltung mehr läuft, emittieren die Brennstäbe weiterhin radioaktive Strahlung und erzeugen dadurch Hitze. Daneben gibt es einen sogenannten Nebenkühlprozess: Hier hält Wasser Notstromaggregate und Pumpen kalt sowie kontaminiertes Wasser aus den Wärmetransportkreisläufen, das gereinigt wird.
Auf der anderen Seite des Kraftwerks gibt es sechs zusätzliche Sprinklerbecken. Sie sind Teil des gesicherten Nebenkühlprozesses und vom Kühlteich getrennt.
Wie funktioniert das Kraftwerk?
Um zu verstehen, warum Wasser eine so große Rolle spielt, ist ein Blick in die Funktionsweise des Kraftwerks nötig. Das AKW Saporischschja besteht aus Druckwasserreaktoren, die Wärme aus Kernspaltung über eine Turbine in Strom umwandeln. Der Druckwasserreaktor sowjetischer Bauart stelle kein grundsätzliches Sicherheitsrisiko dar, sagt Uwe Stoll von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Auch aktuelle Neubauten in Europa laufen nach dem gleichen Funktionsprinzip.
„Zwei Drittel der Wärme in einem Kraftwerk landen in diesem Kondensator“, sagt Uwe Stoll. In Saporischschja waren das bei Betrieb 12 000 Megawatt an Wärmeleistung, die an die Umwelt abgegeben wurden. Zum Vergleich: Eine durchschnittliche Heizung in einem Haus hat etwa 20 Kilowatt Leistung, also 600 000 Mal weniger. Doch weil das Kraftwerk abgeschaltet ist, entsteht weniger Wärme. „Im Moment sind das eher 20, 30, 40 Megawatt“, sagt Uwe Stoll. Das wären also bis zu 2000 Hausheizungen.
Aktuell sind im Kraftwerk fünf Reaktorblöcke so weit abgekühlt, dass die radioaktive Strahlung das Wasser im inneren Kreislauf nicht einmal mehr zum Kochen bringen kann. Das heißt: Das Wasser kann zirkulieren und braucht nicht mehr ausgetauscht zu werden. Der sechste Reaktorblock befindet sich in der Warmabschaltung bei etwa 290 Grad Celsius. Das bedeutet: Er erzeugt noch genug Dampf, um die Turbine zu drehen und Strom für den Standort und eventuell für die Umgebung zu erzeugen. Er braucht aber nur eine minimale Kühlung, weil die Abwärme direkt genutzt wird.
Wie viel Kühlwasser gibt es noch?
Nach dem Dammbruch am Dienstagmorgen fiel der Pegel im Stausee laut der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA stündlich um fünf Zentimeter, nachmittags schon um neun Zentimeter. Der Wasserstand lag am Dienstagmorgen bei 16,4 Metern, am Mittwoch abends um sechs Uhr dann bei 14,03 Metern. Wenn der Pegel unter 12,7 Meter falle, könne das Wasser nicht mehr ins Kraftwerk gepumpt werden, sagte der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA Rafael Mariano Grossi. Er ergänzte: „Es wird davon ausgegangen, dass das Wasser auf diesem Weg für einige Tage reicht.“
Ist der Stausee leer, geht dem Kraftwerk aber noch nicht die Kühlflüssigkeit aus. Es kann auf seinen Kühlteich zugreifen. Nach der Sprengung begann das AKW deshalb, so viel Wasser wie möglich aus dem sich leerenden Stausee in die Kanäle neben dem Kraftwerk zu pumpen. Nicht-essentielle Wasserverbraucher wurden vom System gekappt.
Der Kühlteich könne die Wasserversorgung für ein paar Monate sichern, sagte der IAEA-Chef. Eine Bestätigung dieser Einschätzung durch die IAEA soll noch folgen. Die staatliche ukrainische Energiebehörde Energatom gibt sogar an, dass das Wasser im Kühlteich für zwölf Jahre reiche, wenn der Reaktor ganz ausgeschaltet wird. Das sagte der Behördenchef der New York Times. Um die Brennelemente so lang zu kühlen, dass sie ins Trockenlager können, müssten etwa fünf bis acht Jahre überbrückt werden. Das AKW könnte demnach gefahrlos ohne neues Wasser aus dem Stausee in den Ruhestand versetzt werden.
Was passiert, wenn das Kühlwasser zur Neige geht?
Dass das Kühlwasser komplett aufgebraucht wird, ist extrem unwahrscheinlich. „Der Kühlteich hat durch den Dammbruch kein Wasser verloren“, sagt Uwe Stoll. „Im weiteren Verlauf muss nur das Wasser im Kühlkreislauf ersetzt werden, das verdampft.“
Käme es doch dazu, dass kein Tropfen Wasser mehr im Kühlsystem verbliebe, entstünden zwei Probleme. Erstens: Die abgebrannten und noch immer Wärme erzeugenden Brennelemente lagern in Becken mit Wasser. Fallen sie trocken, korrodieren bei 1200 Grad Celsius zunächst die Barrieren zwischen den Brennelementen. Bei etwa 2400 Grad löst sich die Kristallstruktur der Brennstäbe auf, dabei würde radioaktive Strahlung frei. Es ginge allerdings keine neue Kernspaltung los.
Das zweite Problem wäre: Wenn der Strom ausfällt, springen Dieselgeneratoren an, die Pumpen und Sicherheitssysteme betreiben. Diese müssen im Betrieb gekühlt werden. Gelingt das mangels Wasser nicht, würden mobile Dieselgeneratoren einspringen. Sollte der Notstrom komplett ausfallen, fallen auch die Hauptkühlmittelpumpen aus, und es würde kein kühlendes Wasser mehr durch die Brennelementbecken gepumpt. So könnte auch auf diesem Weg die Schmelze drohen – aber erst nach einigen Tagen, sagt Uwe Stoll. „Dass die Anlagen bereits so lange abgeschaltet sind, ist der Vorteil in Saporischschja: Es ist sehr viel Zeit, bevor es zu kritischen Zuständen kommt.“
Die Brennelementbecken werden im Reaktorgebäude durch Stahl und Beton abgeschirmt. Ein Einschmelzen der Brennelemente hieße deshalb nicht zwangsläufig, dass Radioaktivität in die Umwelt gelangt. Wenn das doch passieren sollte, sagt Uwe Stoll : „Im schlimmsten Fall, wenn alle Brennelemente in den Lagerbecken schmelzen sollten, müsste vermutlich ein Umkreis vergleichbar mit dem in Tschernobyl um den Reaktor evakuiert werden.“ Der genaue Bereich hinge unter anderem von der Windrichtung ab.
Welche weiteren Risiken gibt es nach dem Staudammbruch?
Seit Beginn des Krieges ist viel Personal geflohen. Von ursprünglich 11 000 Mitarbeitenden sind wohl noch etwa 3000 bis 3500 da. Manche Quellen sprechen von nur noch 500 technischen Mitarbeitern. Uwe Stoll schätzt, dass der aktuelle Betrieb mit der verbleibenden Anzahl an Menschen gestemmt werden kann. Er betont aber die psychische Belastung der Mitarbeiter: „Vielleicht wohnt die Familie unterhalb des Kachowka-Staudamms. Sie machen sich Sorgen um deren Sicherheit, müssen aber gleichzeitig für die Sicherheit im Kraftwerk sorgen. Das ist schwierig für jeden, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.“
Die dünne Personaldecke könnte die Umstellung auf ein Notfall-Wassersystem erschweren. Die ukrainische Nuklearexpertin Mariana Budjeryn sagt: „Es braucht nicht nur Material, es braucht Personal. Irgendjemand muss die Lastwagen mit mobilen Pumpen fahren. Das AKW ist bereits bis auf die Knochen heruntergewirtschaftet.“
Wenn die Kämpfe in der Region weitergehen, sind außerdem Schäden am Atomkraftwerk möglich – oder am Kühlteich. Es gibt Berichte, wonach Russland die Reaktorblöcke vermint haben soll. Unabhängig davon betonte die IAEA am Dienstag, wie wichtig der verbleibende Kühlteich für die Sicherheit des AKW ist. IAEA-Chef Grossi warnte: „Es darf nichts unternommen werden, was seine Unversehrtheit gefährden könnte.“
Die Statik des Teichs an sich ist stabil. Ein Erdwall grenzt das Reservoir vom Stausee ab. Selbst wenn der Stausee komplett leerlaufen sollte, bliebe der Wall stehen. „Schon vor dem Staudammbruch wurden im europäischen Stresstest Szenarien eines solchen Notfalls durchgespielt. Der Erdwall ist darauf ausgelegt und wird standhalten“, sagt Reaktorsicherheitsexperte Stoll.
Eine weitere Schwachstelle ist die Stromversorgung des Kraftwerks. Sie quert die Front und schon sieben Mal war die Leitung gekappt. Dieselgeneratoren, drei Stück pro Block plus zwei als Reserve, mussten die Versorgung des Kraftwerks übernehmen. Im Kaltbetrieb würde nun ein Generator pro Block reichen. Ohne Nachschub läuft ein Generator bis zu zehn Tage.
Woher könnte das Kraftwerk neues Wasser bekommen?
Der Kühlteich speiste sich bisher aus dem Stausee, kann aber auch anders befüllt werden. Es gibt im Umfeld des AKW einige Wasserquellen, darunter eine tiefe, mit Wasser gefüllte Grube im Bereich des ZNPP-Frachthafens, und auch das Wassersystem der nahe gelegenen Stadt Enerhodar. Mit mobilen Pumpen und Löschfahrzeugen könnte Wasser von dort zum AKW geschafft werden.
Nach dem Reaktorunglück in Fukushima waren für Saporischschja eigens sechs mobile Pumpen angeschafft worden, die auf Lastwagen montiert sind. Mit ihnen könnte auch Wasser aus dem Flussbett des Dnjepr zum Kühlteich gepumpt werden, sagte der Präsident der Energiebehörde Energoatom Petro Kotin der New York Times. Außerdem gibt es Brunnen auf dem Gelände – und nicht zuletzt sammelt der Kühlteich Regenwasser.