Es gibt ein Video von 2019, da steht Robert Szucs, haselnussbraune Locken bis zum Kinn, auf einer Bühne in Sarasota, einem sonnigen Urlaubsort am Südostzipfel der USA. Das Ansteckmikro steckt zwischen seinem zweiten und dritten Hemdknopf, die Arme stützt er auf ein Rednerpult aus hellem Holz. Ein großer, dünner Mann, der leicht nervös wirkt und manchmal einen Tick zu laut lacht, während er dem Publikum seine knapp über 30-jährige Lebensgeschichte erzählt. Es sei sein erster öffentlicher Vortrag, erklärt er, und er müsse sich erst noch daran gewöhnen, dass man ihn nun einen Künstler nennt.
Eigentlich ist Robert Szucs Geograph. Studiert hat er in Szeged, der drittgrößten Stadt Ungarns, gleich an der Grenze zu Serbien und Rumänien. Nach dem Studium folgte ein Bürojob in Großbritannien, den er aus Langeweile bald an den Nagel hängte. Denn eigentlich wollte Szucs nichts anderes, als die Welt sehen. Mitten auf dieser Reise wurde er als Künstler berühmt. Für seine bunten Karten, auf denen jeweils entweder Flüsse, Wälder, die Bevölkerungsdichte oder Höhenprofile zu sehen sind, wird er heute international gefeiert. Szucs selbst beschreibt sich als introvertiert und perfektionistisch. Weil er in Interviews schnell nervös werde, möchte er die Fragen für diesen Artikel lieber erstmal schriftlich beantworten, später lässt er sich doch zu einem Videotelefonat überreden.
Während des Gesprächs sitzt Szucs in seiner Küche in Szeged, weiße Regale und eine Obstschale im Hintergrund. Er lächelt etwas müde in die Kamera. Die letzten Tage seien hektisch gewesen, sagt er, anstrengend auch für jemanden wie ihn. Unter dem Namen „Grasshopper Geography“ hat er sich mittlerweile selbstständig gemacht, dort verkauft er auch seine Karten. Fast täglich erreichen ihn Anfragen, immer öfter auch von Journalistinnen und Journalisten. Dabei ist Öffentlichkeit gar nicht so sein Ding. Am liebsten wäre er jetzt sowieso woanders. An der Pazifikküste Nordamerikas vielleicht, auf einem Boot, um nach Walen Ausschau zu halten. Wale liebt er schon immer. Aber ja, Corona eben.
Szucs’ Spezialgebiet sind Geoinformationssysteme, kurz GIS. Das bedeutet, er kann aus langen Tabellen voller Zahlen und Zuordnungen Karten erstellen, aus räumlichen Daten, um genau zu sein – Koordinaten, Vektoren, Rasterinformationen. Dazu benutzt er meistens die kostenlose Software QGIS. Eigentlich nichts Besonderes für einen Geoinformatiker wie ihn, doch Szucs’ Karten fallen auf. Sein berühmtestes Werk zeigt alle Flüsse der USA, knallbunt auf schwarz, maximaler Kontrast, jedes Einzugsgebiet – also jedes zusammenhängende Flusssystem, bestehend aus kleinen und großen Strömen, von der Quelle bis zur Mündung ins Meer – in einer anderen Farbe statt dem immer gleichen Blau.
2016 lud Szucs diese Karte auf zwei Online-Plattformen hoch, Imgur und Reddit. Ganz schnell explodierte die Sache. Innerhalb weniger Tage wurde die Karte tausende Male angeklickt, geteilt und kommentiert. Die britische Boulevardzeitung Daily Mail berichtete und aus Szucs, dem Geoinformatiker, war plötzlich Szucs, der Kartenkünstler geworden.
„Karten faszinieren mich seit meiner Kindheit“, sagt Szucs. Als Grundschüler verbrachte er ganze Vormittage damit, Atlanten unter seiner Bank durchzublättern und zu studieren. Später malte er historische Karten aus Geschichtsbüchern ab, und als seine Mutter ihn bat, alte Schulbücher an den kleinen Bruder weiterzugeben, protestierte er so lange, bis er alle Bücher mit Karten behalten durfte. Doch je älter Szucs wurde, desto langweiliger fand er viele der Karten, die ihm täglich begegneten, ob in den Geographievorlesungen, als Stadtpläne oder Hinweistafeln auf Wanderwegen. „Flüsse sind immer blau eingezeichnet, und alle haben dieselbe Breite“, sagt er. „Und bei Höhenkarten fängst du mit grün an, dann gelb und braun und vielleicht noch weiß – immer das Gleiche.“
Aber Langweile ist oft kein schlechter Antreiber. So war es auch bei Szucs. Und dann kam noch Glück dazu. 2014 unterschrieb er im britischen Reading, auf halber Strecke zwischen London und Oxford, einen Vertrag bei einer Firma, die auf GIS-Dienstleistungen spezialisiert ist. Auch eher ein langweiliger Job. Er sollte Karten erstellen, die zeigen, wie sich landwirtschaftliche Flächen in England verändert haben. „Monoton und recht öde“, beschreibt Szucs seine Stelle heute. „Du sitzt in deiner Schreibtischnische, bis du verrückt wirst.“ Aber was er dort lernte, sollte noch wichtig werden.
Nach einem Jahr in der Schreibtischnische kratzte er all sein Geld zusammen, beantragte drei Monate Urlaub und kaufte sich ein Flugticket in die Karibik. Auf der niederländischen Überseeinsel Sint Eustatius, konnte er dort als Freiwilliger für ein archäologisches Forschungszentrum arbeiten. „Ich bin Geograf“, sagt Szucs. „Ich wollte schon immer an eine Million verschiedene Orte reisen, auf jedem Kontinent wohnen und verschiedene Kulturen erleben.“ Jetzt hatte er die Chance. Denn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor Ort wollten historische Verteidigungsstützpunkte der niederländischen Kolonialmächte rekonstruieren, außerdem brauchten sie eine Höhenkarte des Meeresbodens rund um die Insel. Der GIS-Experte Szucs wurde plötzlich viel mehr gebraucht als im kleinen Büro in England. Nach der Reise kündigte er bald den Job in England.
Die Abenteuerphase in seinem Leben nahm seinen Lauf. Es folgten Stationen als Volunteer in Alaska, wo er für Meeresbiologinnen und Meeresbiologen der Alaska Whale Foundation Karten über den Bewegungsradius von Buckelwalen erstellte. Nach Alaska zog es ihn nach Albufeira in Südportugal, um für eine andere Meeresforschungsorganisation zu arbeiten. Hier an der Algarve passierte es, dass Szucs unerwartet zum Künstler wurde.
Eigentlich müsste er sich dafür bei seinem damaligen Chef bedanken. „In Portugal hatte ich einen ziemlich schlechten Chef“, erinnert sich Szucs. „Die Arbeit war chaotisch, es gab nur einen Computer für fünf Freiwillige, und der Chef fuhr oft tagelang nach Lissabon und ließ uns andere allein in Albufeira.“ Das bedeutete allerdings auch, dass Szucs viel Zeit hatte, so viel Zeit wie schon lange nicht mehr. Deshalb setzte er sich eines Tages eher aus Langeweile vor seinen privaten Laptop, lud sich Datensätze aus dem Internet herunter und spielte mit verschiedenen Softwares herum – und: Landkarten.
„Es war eine Kombination aus Frustration und einer kleinen Challenge: Kriege ich das besser hin?“ Szucs arbeitet bis heute hauptsächlich mit Populations- und Höhendaten, sowie Flussklassifikationen nach Arthur Strahler. Um seine Karten spannender zu machen, wählt er ungewöhnliche, oft grelle Farben: petrol für Landesgrenzen, maisgelb für hohe Bevölkerungsdichten, karminrot für Berggipfel. Seine Karten von Flusseinzugsgebieten – also jenen Flächen, aus denen Flusssystemen Wasser zufließt, inklusive aller Seitenbäche – stechen besonders hervor. Jedem Einzugsgebiet gibt er eine eigene Farbe, wie Adern ziehen sich die bunten Flüsse über schwarzes Land.
„Als ich mit den ersten Karten fertig war, dachte ich: Okay, die sehen eigentlich ganz cool aus“, erzählt Szucs. Deshalb lud er sie ins Netz und teilte sie online. „Ich dachte, vielleicht kriege ich zehn Likes, zwei Menschen kommentieren, dem einem gefällt’s, der anderen nicht und das war’s. Ich war absolut unvorbereitet auf das, was dann kam.“
Was danach kam, war eine Welle der internationalen Begeisterung. Die Washington Post, CNN, der BBC und das World Economic Forum berichteten über ihn, und auf einmal kontaktierten ihn so viele Menschen, die seine Karten kaufen wollten, dass er einen Onlineshop einrichtete. Als „Grasshopper Geographer“ – angelehnt an seinen Spitznamen „szöcske“, dem ungarischen Wort für Grashüpfer – hat er bislang knapp 9000 Stück in die ganze Welt verkauft. Vor allem die bunten Flusskarten kommen gut an. Sie hängen als großformatige Gemälde in Küchen und Büros, kleben auf dem Wohnwagen eines US-amerikanischen Ehepaars und zieren zahlreiche T-Shirts. Ein Mann hat sich sogar zwei Tattoos mit seinen Karten stechen lassen, von Vancouver Island und der neuseeländischen Südinsel, und einige Lehrerinnen und Lehrer verwenden seine Werke jetzt als abwechslungsreiches Material im Unterricht. „Als ich das gesehen habe, musste ich fast anfangen zu weinen“, sagt er. „Es macht mich so, so glücklich. Es ist schön, das weiterzugeben.“
Bislang hat Szucs, mittlerweile 35 Jahre alt, vier verschiedene Kartentypen veröffentlicht: seine Flusskarten, mit denen er berühmt wurde, Karten zur Populationsdichte, Höhenkarten und Karten, die zeigen, wie dicht die Bewaldung an verschiedenen Orten auf der Welt noch ist. Letztere sind inspiriert von seiner Zeit in Indonesien. Dort arbeitete er nach dem Job in Portugal für sieben Monate als Freiwilliger für ein Orang-Utan-Schutzzentrum im Regenwald. Szucs findet, dass seine Waldkarten der Kartentyp sind, der das größte politische Potential hat: „Sie zeigen auf einen Blick, dass es da noch was zu tun gibt und man Wälder schützen muss.“
Trotzdem sieht er an den Verkaufszahlen und Nachrichten, die ihn erreichen, dass seine Flusskarten bei weitem die meisten Menschen begeistern. Doch was macht sie so faszinierend?
Natürlich fallen Szucs Karten einfach auf. Knallig bunt und einfach zu verstehen, das erkennt jeder auf einen Blick. Fragt man Szucs selbst, was seine Karten so erfolgreich macht, dann antwortet er: „Ich zeige die Schönheit der Natur auf eine frische, farbenfrohe Art.“ Doch hier muss man vorsichtig sein, denn die Natur spricht auf seinen Karten nicht für sich selbst. Es ist Szucs, der manchmal tagelang mit den Daten herumspielt, bis sie das machen, was er will. Er trifft die Entscheidungen – vorrangig anhand ästhetischer Gesichtspunkte. „Natürlich beruhen die Karten auf wissenschaftlich korrekten Daten, aber sie müssen gut aussehen, sonst mache ich die Karten nicht.“ Und Schönheit, die hat für Szucs auch etwas mit Einfachheit zu tun. Ein Blick und man soll wissen, worum es geht: Flüsse, Menschen, Bäume, Relief, viel, wenig, hoch, tief, Australien, Europa, Amerika.
Das ist nicht immer unproblematisch, vor allem wenn man sich Szucs Karten nicht nur als Kunstwerk über den Schreibtisch hängen, sondern tatsächlich etwas aus ihnen lernen oder verstehen will. Es gibt auf den Karten nämlich keine Legenden oder Angaben zum Maßstab. So kann es auf den zweiten Blick etwas verwirrend werden. Zum Beispiel variieren die Maßstäbe unter seinen verschiedenen Karten, auch innerhalb desselben Kartentyps, und das bedeutet: Je größer ein Land oder Kontinent, desto weiter musste Szucs „herauszoomen“, um es komplett abzubilden. So können auf der Karte des riesigen afrikanischen Kontinents Details verloren gehen, etwa kleinere Flüsse und Zuströme, während vergleichbare Gewässer auf der Europakarte noch deutlich zu erkennen sind.
Außerdem könnte man beim Anblick seiner Flusskarten meinen, dass es überall auf der Welt genügend und auch reichlich Wasser gibt. Doch der Schein trügt, denn die zugrundeliegenden Daten beinhalten auch Flusssysteme, die jedes Jahr nur für ein paar Wochen oder Monate Wasser führen. So sind auf seiner Afrikakarte zahlreiche Flusssysteme im Norden des Kontinents eingezeichnet, obwohl der Großteil der Sahara-Region in Wirklichkeit das ganze Jahr über staubtrocken ist. Und nur weil der Schwarzwald auf seiner Höhenkarte Deutschlands rot eingefärbt ist, heißt das noch lange nicht, dass er genauso hoch liegt, wie die rot gefärbten Ausläufer des Himalayas auf seiner Indienkarte. Man muss also schon genau hinsehen – oder eben nicht so genau, und die Karten als Kunst auf sich wirken lassen.
Wer es genauer nimmt, sollte die Karten einzelner Länder nicht einfach nebeneinanderlegen und miteinander vergleichen. Szucs ist das bewusst, aber er meint auch: „Ich habe schnell gemerkt, dass viele Länder ziemlich langweilig aussehen, wenn ich immer dieselbe Farbeinteilung verwende. Hätte ich das getan, dann würde sich niemand für die Karten interessieren.“ Und genau hier liegt das Dilemma – für Szucs im Kleinen, und für die Wissenschaftskommunikation im Großen: Wissenschaftliche Abbildungen sollen nicht nur die Wirklichkeit abbilden, sondern auch gut aussehen, verständlich sein und Menschen erreichen. Im besten Fall sind sie beides gleichzeitig: wissenschaftlich korrekt und schön.
Doch schon immer in der Welt der Karten gewann oft auch die Ästhetik die Oberhand. Bis ins 19. Jahrhundert hinein stellten Wissenschaftler auf ihren Abbildungen sogar explizit metaphysische Idealtype dar, etwas Perfekteres, als es in der Natur tatsächlich vorkam, zum Beispiel eine bestimmte Blume oder den menschlichen Körper. Es ging darum diesen Idealtyp zu ‘entdecken’, Gottes wahren Plan, vollkommen und deshalb wunderschön. Das hat wenig mit unserem heutigen Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlichen Abbildungen zu tun. Trotzdem dürften sich die meisten Menschen auch heute noch lieber Karten, Diagramme und Zeichnungen ansehen, die gut aussehen, statt solche, die zwar komplett korrekt, aber dadurch auch öde und unverständlich aussehen.
In seinem Onlineshop und auch im Gespräch deklariert Szucs seine Karten ganz bewusst als Kunst – und begeistert so wahrscheinlich viel mehr Menschen für Geografie und Naturschutz, als er das mit wissenschaftlicheren Karten je erreichen könnte. Die richtige Balance zwischen Ästhetik und Wissenschaft zu finden, das ist die eigentliche Kunst.
Auf der Bühne in Florida hält Szucs gegen Ende seines Vortrags für ein paar Sekunden inne, auf der Leinwand hinter ihm leuchten die Flüsse der USA in allen Farben des Regenbogens. „Ich habe das Gefühl, dass meine Karten die Menschen wirklich berühren“, sagt er und es wirkt, wenn er es sagt, gar nicht so schlimm pathetisch, eher grundehrlich und berührt. „Ich bekomme zum Beispiel Nachrichten von Leuten, die mir erzählen, dass sie meine Karten an die Flüsse erinnern, an denen sie früher mit ihrem Vater fischen waren, oder an denen sie aufgewachsen sind.“ Szucs selbst sieht seine Kunst als Chance für den Umweltschutz, denn wer sich mit der Natur um sich herum verbunden fühlt, der will sie auch pflegen und bewahren. Und vielleicht würden sich die Menschen ja tatsächlich noch mehr für den Klimawandel oder das Artensterben interessieren, würde Robert Szucs eines Tages einen Weg finden, auch Luftverschmutzung, Biodiversität oder Überfischung auf knallbunten, kunstvollen Karten darzustellen.